Das magische Buch
Ton. »Komm her!«
Ich bleibe ein paar Meter vor ihnen stehen.
»Du bist ein Spitzel und eine Petze«, beschuldigt er mich. »Und Spitzel und Petzen können wir nicht leiden.«
Ich hab’s befürchtet: Er will mich reizen, damit ich wütend werde und er mich verprügeln kann!
»Jedenfalls zerreiße ich keine Bücher, so wie du!«, gebe ich zurück.
Ich weiß wirklich nicht, woher ich den Mut nehme.
»Du bist ein Angsthase, weiter nichts!«, sagt einer seiner Freunde.
»Jawohl! Ein Angsthase, der sich hinter Mädchen versteckt!«, fügt Lorenzo hinzu.
»Los, sag schon, was du der Lehrerin erzählt hast, neulich, als wir die Zettel zerrissen haben!«, brüllt Sansón mich an.
»Gar nichts! Ich habe gar nichts erzählt. Sie hat selbst gesehen, was passiert ist.«
»Feigling! Du hast ja nur Angst, dass ich dir die Fresse poliere«, sagt er und baut sich drohend vor mir auf.
»Selber Feigling!«, gebe ich zurück. »Du hast vor allem Möglichen Angst!«
»Was hast du da gesagt?«, fragt Lorenzo, als wären meine Worte hochexplosiv.
Ich bin mir sicher, dass Sansón gleich Hackfleisch aus mir machen wird. Der Moment der Abrechnung ist gekommen. Geschieht mir recht! Warum konnte ich auch nicht meinen Mund halten!
»Sag das noch mal!«, knurrt er. »Wovor soll ich Angst haben?«
»Vor dem Lesen, zum Beispiel. Davor hast du Angst. Du bist ein Feigling, der sich nicht traut, Bücher zu lesen. Deswegen zerreißt du sie.«
Er sieht mich an, als wüsste er nicht, wovon ich rede.
»Ich hab doch keine Angst vorm Lesen, du Dumpfbacke!« Er packt mich an den Schultern und schüttelt mich.
»Und warum willst du dann alle Bücher verbrennen? He?«
»Weil sie zu nichts nütze sind!«, brüllt er.
»Und warum hasst du sie dann, wenn sie doch zu nichts nütze sind?«
»Ich hasse sie, weil man nur Zeit damit verschwendet … und weil sie einen verrückt machen!«
»Du hasst sie, weil du nicht lesen kannst! … Deswegen musst du auch die Klasse wiederholen!«, schreie ich so laut, dass alle es hören können.
Plötzlich herrscht absolute Stille um uns herum. Als würde die ganze Welt den Atem anhalten. Alle starren mich an, als hätte ich etwas Unglaubliches gesagt.
In diesem Augenblick kommt Javier zu uns. Als er sieht, dass Sansón mich an den Schultern gepackt hat, geht er gleich auf ihn los.
»Vor Gorillas wie dir hab ich keine Angst!«, schreit er ihn an. »Wenn du noch einmal meinen Bruder anmachst, müssen wir uns mal in aller Ruhe unterhalten!«
»Was willst du denn, du Zwerg?«, entgegnet Sansón.
»Ach, du kannst ja in ganzen Sätzen sprechen«, lacht Javier. »Wo du doch gar nichts im Kopf hast!«
»Also, hört mal, ihr müsst doch nicht gleich …«, setze ich an.
»Wir sprechen uns noch«, sagt Sansón und lässt mich los. »Das machen wir unter uns aus!«
Er und seine Clique ziehen ab. Mir zittern die Knie. Ich habe das Gefühl, sie werden nie mehr aufhören zu zittern. Ich bin schweißgebadet, meine Kehle ist wie ausgetrocknet … Ich glaube, so viel Angst hatte ich noch nie.
Mein Bruder legt mir die Hand auf die Schulter.
»Du zitterst ja«, stellt er fest. »Und du bist ganz blass! Wenn der dich noch mal anmacht, sag mir Bescheid.«
»Bring dich wegen mir nicht in Schwierigkeiten«, antworte ich. »Es lohnt nicht. Der Gorilla versteht keinen Spaß.«
»Ich mach das doch nicht wegen dir, du Blödmann! Ich mach das wegen Papa! Wie soll er denn gesund werden, wenn du mit einem blauen Auge nach Hause kommst?«
Ich muss mich immer wieder darüber wundern, wie ernsthaft Javier ist. So klein und schon so schlau!
»Los, komm, wir müssen ins Krankenhaus«, befiehlt er. »Anscheinend geht es Papa schlechter.«
»Was? Wieso schlechter? Was ist passiert?«
»Ich hab Mama angerufen. Sie sagt, er hatte wieder einen Anfall«, erklärt er. »Der Arzt musste kommen.«
»Ich muss sofort zu ihm«, sage ich.
Wir rennen zum Krankenhaus. Wie immer grüßen wir die Dame an der Rezeption und fahren mit dem Aufzug in die zweite Etage.
Das Zimmer ist abgedunkelt, und Papa liegt in seinem Bett und schläft, wie ein hilfloses Kind. Mama sitzt auf einem Stuhl im Hintergrund. Obwohl es dunkel ist, sehe ich, dass sie geweint hat.
»Wie geht es ihm?«, frage ich.
»Besser. Sie haben ihm ein Beruhigungsmittel gegeben.«
Ich setze mich neben das Bett und betrachte ihn. Dann kommt mir eine Idee: Ich nehme die letzten Seiten, die Lucía und ich ausgedruckt haben, aus meiner Mappe und fange an zu lesen. Leise, um ihn
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