Das magische Buch
ist.
»Und warum bist du dann so unruhig?«, fragt sie mich.
»Ich? Unruhig?«
»Du kannst mir nichts vormachen, das weißt du doch. Ich merke alles, vergiss das nicht! Wir Schriftsteller sind …«
»Ja, ja, ich weiß, wie ihr Schriftsteller seid«, entgegne ich genervt.
»Gut, dann erzähl mir, was mit dir los ist.«
»Nichts … Nur dass Sansón überall rumerzählt, dass er mich verprügeln will, wenn er mich das nächste Mal sieht.«
»So ein Mist!«, flucht sie.
»Ja … das ist echt Mist«, wiederhole ich mit einem leichten Zittern in der Stimme.
Ein Schriftsteller würde sagen, uns steht die Sorge ins Gesicht geschrieben, als wir in die Klasse gehen. Wir setzen uns auf unsere Plätze, und Señorita Clara klatscht in die Hände, um sich Gehör zu verschaffen. In diesem Moment kommt Sansón mit seiner Clique herein.
Unsere Lehrerin beachtet sie nicht, aber Sansón sieht mich an. Als er an mir vorbeigeht, zeigt er mir seine geballte Faust.
»Wir wollen heute über den Lesewettbewerb sprechen«, sagt Clara. »Welche Bücher habt ihr gelesen?«
Einige Hände schnellen in die Höhe, Stimmen rufen durcheinander.
»Ruhe! Einer nach dem andern!«, ermahnt uns die Lehrerin. »Sonst versteht man nichts mehr.«
Ich bin total aufgeregt. Gleich gehe ich in die Luft. Ich weiß jetzt, dass ich es einfach blöd finde, mich bedroht zu fühlen.
»Darf ich etwas sagen, Señorita?«
Das war ich! Ich habe mich gemeldet und bin aufgestanden!
»Ja, César, was ist?«, fragt Señorita Clara.
»Ich möchte etwas sagen. Darf ich nach vorne kommen?«
»Natürlich … Komm nach vorne an die Tafel«, fordert sie mich auf.
Ich bin jetzt ganz ruhig. Langsam stelle ich mich mit dem Rücken zur Tafel und sehe meine Klassenkameraden an.
»Ich heiße César Durango, und mein Vater ist Schriftsteller«, beginne ich. »Er hat ein Buch geschrieben, es heißt Das unsichtbare Buch . Im Moment schreibt er gerade an der Fortsetzung …«
»Bist du etwa nach vorn gekommen, um Werbung für die Bücher deines Vaters zu machen?«, fragt mich die Lehrerin.
»Nein, Señorita … Ich möchte Sansón Pérez auffordern, uns Das unsichtbare Buch vorzulesen – wenn er sich traut!«
Sansón sieht mich wütend an. Aber das ist mir egal.
»Traust du dich, aus dem Unsichtbaren Buch vorzulesen? Vor allen?«, frage ich ihn.
»Ich lese keine unsichtbaren Bücher«, antwortet er und steht auf. »So einen Blödsinn mache ich nicht.«
»Du liest weder unsichtbare noch sichtbare Bücher«, werfe ich ihm vor. »Das Buch meines Vaters ist sichtbar, jeder kann es lesen. Jeder, nur du nicht! Wenn du den Mut dazu hast, dann beweise uns, dass du es kannst! Beweise uns, dass du in der Lage bist, ein Buch zu lesen!«
Jetzt ist Sansón wirklich stinksauer. Ich habe ihn vor der ganzen Klasse bloßgestellt.
»Deswegen zerreißt du Bücher«, fahre ich fort, »und deswegen hasst du sie! Weil du nicht lesen kannst! Das ist auch der Grund, warum du die Klasse wiederholen musst!«
»Das ist gelogen!«, brüllt er und springt auf. »Ich kann besser lesen als du!«
Ich gehe zu meinem Platz, mache meine Tasche auf und hole ein Exemplar vom Unsichtbaren Buch heraus. Dann gehe ich wieder zurück nach vorne und halte das Buch hoch.
»Dann lies!«, rufe ich.
Stille. Keiner rührt sich. Keiner sagt was. Keiner atmet.
Sansón steht da wie erstarrt. Er weiß nicht, was er machen soll.
»Moment mal!«, mischt sich unsere Lehrerin ein. »Wir machen Folgendes …«
Alle sehen sie an. Gespannt warten wir auf ihren Vorschlag. Inzwischen wissen wir ja, dass sie manchmal gute Ideen hat.
»Heute seid ihr sehr … unruhig. Aber morgen, morgen Vormittag lesen wir gemeinsam Das unsichtbare Buch . Alle, die einen Abschnitt vorlesen möchten, können das tun … Und wer nicht will, der muss auch nicht. Wir wollen niemanden zwingen, okay?«
Niemand antwortet, aber die Herausforderung steht.
Ich setze mich wieder auf meinen Platz und zwinkere Lucía zu.
»Gut, dann machen wir mit unserem Unterricht weiter«, sagt Clara. »Wo waren wir stehen geblieben …?«
Ich höre nicht hin, denke nur an das, was mir bevorstehen könnte. Wenn Sansón seine Drohung wahr macht, sieht mein Gesicht heute Abend aus wie eine aufgeplatzte Melone.
Wir bleiben zum Essen in der Schule. In der Kantine reden alle über das, was heute Morgen vorgefallen ist. Einige kommen zu mir und sagen, was sie davon halten.
»Ich bin ganz deiner Meinung, César«, sagt Candela. »Das war sehr mutig von
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