Das Marmorne Paradies: METRO 2033-Universum-Roman (German Edition)
seine Frage wiederholen würde, sagte er noch gedämpfter als zuvor: »Nichts ist los. Es ist jemand krank geworden, und deshalb wird Mama im Krankenhaus gebraucht.«
Mit einem sachlichen Kopfnicken wandte sich sein Sohn um und ging langsam zu seinem Bett hinüber.
»Ich komme schon«, sagte Polina. »Ich habe nur gerade so schön geträumt. Von der Lenin-Bibliothek.«
Sergej blickte sie zärtlich an. An ihrem Gesicht war überhaupt nicht zu erkennen, dass sie eine Minute zuvor noch fest geschlafen hatte. Ihr Blick war klar, und eine feine Röte überzog ihre Wangen, wie bei einem Menschen, der schon längere Zeit auf den Beinen ist.
»Entschuldige«, sagte er. »Ich habe alles versucht, aber der Chirurg besteht darauf, dass du kommst. Er sagt, keiner kann das so gut wie du …«
»Es ist schön, wenn man geschätzt wird«, entgegnete seine Frau. »Wer ist krank?«
Sergej beugte sich zu ihr, damit Denis seine Worte nicht hören konnte. Der Junge war ebenso neugierig wie trotzig, aber was Sergej zu sagen hatte, war nicht für die Ohren eines Kindes bestimmt.
»Eine Karawane ist eingetroffen. Keine Ahnung, warum man sie mitten in der Nacht eingelassen hat. Jedenfalls haben sie einen Verletzten mitgebracht. Genaueres weiß ich nicht, aber anscheinend hat ihn oben ein Tier gerissen. Der Chirurg glaubt, dass irgendwas nicht in Ordnung ist mit ihm …«
Er sprach fast lautlos und blickte dabei prüfend zum Bett seines Sohnes hinüber. Der Junge lag ganz still und atmete gleichmäßig; vielleicht schlief er tatsächlich schon. Andererseits hätte Sergej nicht darauf wetten mögen, dass sein Sohn nicht gespannt ihr Gespräch belauschte.
Polina nickte, dann fragte sie ebenfalls flüsternd: »Gehst du auch hin?«
Sergej nickte. »Sie werden gleich mit den Verhandlungen anfangen …«
Die beiden machten sich eilig fertig, wobei sie darauf achteten, keinen Lärm zu machen. Der Tee in der alten, angeschlagenen Thermoskanne war noch warm, aber da die Zeit drängte, beschlossen sie, erst nach ihrer Rückkehr zu frühstücken.
Draußen vor ihrem Wohnabteil verabschiedeten sie sich. Polina bog um die Ecke und eilte die Treppen hinauf zur Tür der Krankenabteilung; Sergej lenkte seine Schritte über das Stockwerk zu einer entfernten Treppe, die direkt zum Großen Saal hinaufführte. Die Wohnetage lag dunkel und im Schlaf versunken da.
In dem geräumigen Großen Saal, der von Petroleumlampen spärlich erleuchtet wurde, war schon alles bereit für die übliche Prozedur des Handelns und Feilschens, die jeden Augenblick beginnen würde. Auf der einen Seite des großen ovalen Mahagonitisches – einst ein mit reichen Intarsien geschmücktes, sorgfältig gepflegtes Möbel, das jetzt voller Risse und Schrammen war – saßen die Vertreter des Gemeinderats. Sergej fiel auf, dass der Vorsitzende, Pjotr Saweljewitsch, fehlte. Genaugenommen war nichts Ungewöhnliches daran, dass man ihn nicht mitten in der Nacht
geweckt hatte. Das Oberhaupt war bereits Ende siebzig und in letzter Zeit schwerfällig geworden. Er schlief schlecht und wachte noch schlechter wieder auf.
Sergej wusste, dass der Vorsitzende auch tagsüber immer seltener seine Wohnung verließ und das Alleinsein schätzte. Man flüsterte bereits, dass der Alte seine letzten Tage zähle. Auf seine Position hatten es drei Mitglieder des Gemeinderates abgesehen, die schon im Vorfeld heftig mit den Ellenbogen rangelten. Jeder von ihnen versuchte die Kolonisten mit plumpen Tricks auf seine Seite zu ziehen. Alle drei hatten bereits am Tisch Platz genommen. Rund um sie herum, auf Tisch und Boden, waren die verschiedenen Gebrauchsgegenstände und Lebensmittel ausgebreitet, die in den Labors, Werkstätten und den Treibhäusern der Kolonie erzeugt wurden.
Auf der anderen Seite hatten sich vier Mitglieder der Karawane niedergelassen. In der Mitte saß ihr Anführer, der unter dem klangvollen Spitznamen »Jedi« bekannt war, ein Name, der aus einem alten Film stammte. Über diesen Mann erzählte man sich Legenden, ebenso über die weiten Streifzüge seiner Karawane und deren Kämpfe mit geheimnisvollen Ungeheuern, aber er selbst sprach nicht gern darüber. Jedi konnte die Kolonisten nicht leiden und nannte sie graue Ratten. Für die Metro hatte er nur Verachtung und Spott übrig und betonte immer wieder, dass ein echter Mann frei leben und sterben solle, auf der Erde, unter freiem Himmel … Selbst wenn dieser Himmel so aussah, wie es heutzutage nun mal der Fall war. Jedis Äußeres
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