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Das marokkanische Mädchen. Ein Fall für Jacques Ricou

Das marokkanische Mädchen. Ein Fall für Jacques Ricou

Titel: Das marokkanische Mädchen. Ein Fall für Jacques Ricou Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Wickert
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Fünfundzwanzig Schuss
    P aris erwachte langsam, als er um sieben Uhr die rote Eingangstür hinter sich zuzog. Eine Glasscherbe fiel zu Boden. Er schaute hoch und sah das zerbrochene Fenster über dem linken Türflügel. Mit einem Achselzucken lehnte er sich über den Sitz seiner Vespa. Er klappte ihn zurück und legte das Päckchen mit der Pistole und den drei Magazinen in das Helmfach.
    Neun Uhr, hatte ihm sein Auftraggeber gesagt, für neun Uhr habe er die Verabredung mit dem Ziel getroffen. Er sprach stets von Ziel oder Zielobjekt, nie von Opfer. Denn ein Objekt ist eine Sache, ein Opfer dagegen ein Subjekt und damit eine Person.
    Überaus genau bereitete er seine Einsätze vor.
    Deshalb war er in den letzten Tagen mehrmals am frühen Morgen auf verschiedenen Wegen von der Rue Revebal im Osten von Paris zu den Teichen im Wald von Ville-d’Avray gefahren. Er hatte die Strecke auf Staugefahr und Bauarbeiten überprüft, ja, er hatte sich sogar längere Ampelphasen aufgeschrieben.
    Seine Analyse ergab: Durch die Stadt an den Quais der Seine entlang war es am kürzesten, dauerte aber am längsten. Über den südlichen Périphérique war die Strecke zwar ein wenig länger als über den nördlichen, aber es ging am schnellsten.
    Deshalb fuhr er jetzt die Rue Revebal hoch, bog in die Rue de Belleville ein und rollte in Richtung Porte des Lilas.
    Seit zwölf Jahren wohnte er in der siebten Etage dieses riesigen Blocks mit Sozialwohnungen, wo der weiße Lack von den Fensterläden abplatzte. Drei Zimmer, Küche, Bad. Recht komfortabel für einen Kellner aus dem »Le Pacifique«. Von seinem Wohnzimmer schaute er auf das Flachdach des Hauses nebenan, dessen Eingang um die Ecke in der Rue Jules Romain lag. Eine gute Fluchtmöglichkeit. Deshalb hatte er sich eben diese Bleibe ausgewählt.
    Das Haus wurde beherrscht von Chinesen aus Wenzhou, die vor Ende des Kalten Krieges nach Frankreich geflohen waren und sofort Aufenthaltsgenehmigungen erhalten hatten.
    Flüchtlinge aus Asien, wo Frankreich einst Kolonien besaß, wurden damals aus schlechtem Gewissen schnell aufgenommen.
    Er dagegen war erst später aus der nordchinesischen Gegend Dongbei, einst Mandschurei genannt, nach Paris gezogen. Doch inzwischen waren die Behörden kleinlich geworden. Aufenthaltsgenehmigungen waren rar. Und er hatte keine mehr bekommen.
    Im Chinatown von Belleville aber half man sich gegenseitig. Die Chinesen aus Wenzhou gaben den Chinesen aus Dongbei Arbeit. Allerdings zu wahren Ausbeuterlöhnen. Denn sie hatten ja keine Papiere. Er und Tausende seiner Landsleute mussten deshalb als Schwarzarbeiter jeden Drecksjob zu miesen Hungerlöhnen annehmen, um zu überleben.
    Die Wohnung hatte er als Flüchtling aus Dongbei auch nur bekommen, weil die aus Wenzhou stammende Madame Li, seine Chefin und die Besitzerin von »Le Pacifique«, das Appartement angemietet hatte.
    Da er unter Decknamen lebte, hatte er sich bei der Auswahl des falschen Namens einen Spaß gemacht.
    Seinen Nachbarn gegenüber gab er sich als Gao Qiu aus. Und so stand es in seinen gefälschten Papieren.
    Für einen Franzosen war Gao Qiu ein Name wie jeder andere.
    Aber jeder Chinese wusste, wer Gao Qiu war: Eine unheimliche Figur aus dem chinesischen Volksroman »Die Räuber vom Liang Shan Moor«.
    Gao Qiu war in diesem populären Klassiker aus dem 14 . Jahrhundert ein hoher und korrupter Beamter am kaiserlichen Hofe. Er ermordete alle, die sich seinem Ziel in den Weg stellten: Gao Qiu, der es bis zum Marschall brachte, wollte den Kaiser stürzen und begehrte die Frauen anderer Männer. Und weil sie seiner Lust im Weg standen, verurteilte er diese Männer zum Tode.
    Vor jemandem, der sich Gao Qiu nannte, hatten selbst hochnäsige Chinesen aus Wenzhou heute noch Achtung.
    Es wird ein schöner Tag, dachte Gao Qiu.
    Am Abend zuvor war er noch um die Ecke gegangen, wo die billigen chinesischen Mädchen den Beruf ausübten, den sie »auf der Straße stehen« nannten. Das gehörte zu seiner Vorbereitung.
    Er hatte nicht lange gesucht, bis er YuanYuan fand. Auch sie stammte aus Dongbei. Er gab ihr zwanzig Euro.
    Die aufgehende Sonne färbte die spärlichen Wolken im Osten blutrot. Doch als er auf den Périphérique einbog und sah, dass eine lange Schlange von Lastwagen die rechte Spur blockierte, fluchte er nur kurz und schlängelte sich geschickt zwischen den Fahrspuren durch.

Das erste Opfer
    A n diesem Morgen rasierte sich Philippe Lefèvre Beine und Arme. Eine Marotte. Aber schließlich

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