Das Maya-Ritual
1
Nick Goldberg lächelte, als sie ihm den Kopf abschlugen. Sekunden bevor es geschieht, sieht man ihn im gleißenden Flutlicht auf der Spitze der Stufenpyramide. Er steht in weißem Hemd und Shorts vor dem Tempel und spricht in ein winziges Funkmikrofon seitlich von seinem Mund.
Der Kameramann witzelt irgendetwas in Goldbergs Kopfhörer und zoomt dann nahe an das Gesicht des Mannes heran, um seine Reaktion zu beobachten. Goldberg grinst von einem Ohr zum anderen.
Die Farben der Scheinwerfer wechseln. Die Pyramide erstrahlt nun blutrot, als würde sie von innen beleuchtet.
Die Kamera fährt zurück und gibt einen umfassenderen Blick auf das Gebäude frei, das sich prächtig vor dem Nachthimmel abhebt. Es ist leicht unscharf.
Goldberg dreht sich um und tritt ins Halbdunkel des Tempels.
Der Kameramann bekommt das Bild genau in dem Augenblick scharf, als Goldbergs Körper aus dem Tempel heraus und über den Rand der Pyramide katapultiert wird.
Auf halbem Weg nach unten prallt er von den steinernen Stufen ab, überschlägt sich und wirbelt durch die Luft, bis er aus dem Bild heraus in den unbeleuchteten Bereich am Fuß der Pyramide fällt.
Die Scheinwerfer schalten auf normales Licht und beleuchten den Platz, auf dem die Pyramide steht. Drei Meter von ihrem Sockel entfernt liegt ein roter Klumpen im Staub. Die Kamera zoomt heran und fährt an Goldbergs Hemd entlang, das von der Taille bis zu den Schultern blutgetränkt ist. Dann schwenkt sie langsam die Stufen hinauf und sucht nach dem Rest von ihm.
Wir sahen die Videoaufzeichnung im Hauptquartier der Policia Judicial del Estado in Mérida, im Beisein von Captain Ernesto Sanchez. Trotz der geschlossenen Fensterläden, die das Licht der Nachmittagssonne größtenteils aussperrten, war die Luft im Raum wie heißer Sirup. Und der Ventilator, der an der Decke mit der Drehzahl eines abhebenden Flugzeugs rotierte, schien den Dunst nur immer mehr zu verquirlen. Nicht zum ersten Mal kam ich mir in Mexiko wie ein Hähnchen im Umluftherd vor. Bei Sanchez zeigte die Hitze keine Wirkung, aber anders als Ken und ich war er hier aufgewachsen.
Und im Augenblick schien Ken sogar mehr zu leiden als ich. Das lange, grau werdende Haar klebte ihm am Schädel. Er beugte sich im Sessel vor und zog an dem schweißgetränkten T-Shirt, das ihm wie Frischhaltefolie am Rücken klebte. Dann lüftete er es einige Male, um sich Kühlung zu verschaffen. Die Erleichterung würde von kurzer Dauer sein.
Als Ken Arnold mich bat, mit ihm in einem Wasserloch auf der Halbinsel Yukatan zu tauchen, wunderte ich mich zunächst, warum ihn die Aussicht darauf so zu begeistern schien. Wir waren bereits viele Male in einem cenote getaucht. Diese Kalksteinbecken im Dschungel, von denen manche im Mittelpunkt von Mayaritualen standen, sind die einzige Frischwasserquelle auf dem Plateau. Und sie sind außerdem eine Attraktion für Taucher aus den USA und Europa.
»Es handelt sich nicht um irgendeinen Zenote«, sagte er , »sondern um den Heiligen Brunnen in Chichen Itza.«
»Wow.« Ich war beeindruckt. Und verwundert, denn abgesehen von selten genehmigten archäologischen Tauchgängen war der Zenote gesperrt.
»Worum geht es?«, fragte ich.
»Um eine polizeiliche Ermittlung. Wir sollen ihnen etwas aus dem Brunnen heraufholen.«
Ich fragte mich kurz, warum sie nicht ihre eigenen Taucher einsetzten. Doch man braucht Spezialisten und eine besondere Ausrüstung, um einen Zenote zu erkunden und sich in den klaustrophobisch engen Durchgängen des Systems zurechtzufinden, den Portalen zu einer unterirdischen Wasserwelt aus Kammern und Höhlen. Und Ken Arnold hatte diesen Sport auf Yukatan beinahe im Alleingang etabliert.
»Was genau?«
»Warst du mal bei dem Spektakel zur Tagundnachtgleiche in Chichen?«
»Nein.«
»Aber du weißt, was es ist?«
Es wurde in jedem Reiseführer über Yukatan erwähnt.
»Ja. Der Einfallwinkel der Sonne erzeugt die Illusion einer riesigen Schlange, die an der Pyramide hinabgleitet. Müsste demnächst passieren, glaub ich.«
»Heute Nachmittag, um genau zu sein. Dreiundzwanzigster September. Normalerweise zieht es Tausende von Besuchern an, aber diesmal hätten es Millionen sehen sollen. Sie haben ein großes Medienereignis daraus gemacht, eine Neuinszenierung der Mayazeremonie mit Kostümen und allem Drum und Dran, gefolgt von einer großen Licht und Tonshow, und das Ganze rund um den Globus gesendet. Nur wurde es leider abgesagt. Man hat den Typ, der das ganze Spektakel
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