Das Maya-Ritual
Entschuldigung entfernte ich mich ein paar Meter. Es war meine Freundin Deirdre O’Kelly; sie rief von Cozumel aus an, wo sie sich in meiner Abwesenheit um den Tauchclub kümmerte, zusammen mit einem Studenten namens Alfredo Yam, der schon seit Beendigung seiner Abschlussprüfungen zu Beginn des Sommers für mich arbeitete.
»Tut mir Leid, dass ich dich störe, Jessica. Ich habe hier ein paar Taucher, die morgen früh rausfahren wollen. Aber ich weiß nicht, ob Alfredo hier sein wird, um sie rauszubringen.«
»Kannst du ihn nicht fragen? Ist er heute nicht erschienen?«
Ich hatte Cozumel mit der Morgenmaschine nach Mérida auf der anderen Seite der Halbinsel Yukatan verlassen. Ken war frühmorgens in Cancun losgefahren und hatte mich am Flughafen abgeholt.
»Nein. Und ich erreiche ihn nicht auf dem Handy.« Dann fiel mir ein, dass Alfredo zwei Tage Urlaub hatte.
»Herrje, Deirdre, das hab ich ganz vergessen. Alfredo hat heute auch noch frei. Tut mir Leid, dass ich dich mit dem Laden allein gelassen habe. Aber morgen ist er mit Sicherheit wieder da.«
»Kein Problem. Was soll ich nun diesen Tauchern sagen?«
»Sag Nein, es sei denn, sie wollen es riskieren, die Sache bis morgen früh offen zu lassen.«
»Wird gemacht. Und vielleicht versuche ich es nochmal bei Alfredo. Ruf mich später an, und erzähl mir, was es Neues an Klatsch gibt.«
»Mach ich. Bis dann.«
Als ich an meinen Platz zurückkam, fragte Ken gerade Dr. de Valdivia: »Warum war Captain Sanchez so besorgt wegen der Sperrung des Zenote für Besucher?«
»Es gibt auf dem Gelände eine Reihe von Ständen, die Snacks und Erfrischungsgetränke verkaufen«, erwiderte Dr. de Valdivia. »Sein Bruder ist an dem Unternehmen beteiligt, das die Konzession besitzt. Und der Stand neben dem Zenote macht das lebhafteste Geschäft.«
Ken pfiff durch die Zähne. »Und seit Beginn der Proben für die Fernsehübertragung ist er wahrscheinlich geschlossen. Wann war das, vor drei Tagen?«
Dr. de Valdivia nickte.
»Sagten Sie nicht, Captain Sanchez sei so eine Art guter Sheriff, der angetreten ist, um in Dodge City aufzuräumen?«, warf ich ein. »Das klingt mir eher nach weiter wie gehabt.«
»Nicht ganz, Senorita. Was Sanchez betrifft, handelt es sich hier um eine Frage von familiärem Zusammenhalt - Korruption ist da nicht im Spiel: Damit ist es bei uns in Mexiko jetzt nämlich vorbei«, sagte Dr. de Valdivia und zwinkerte mir zu.
4
Ich war gerade im Begriff, die Nummer des Tauchclubs zu wählen, als mir der Gedanke kam: Es scheint im Leben eines jeden Menschen eine Phase zu geben, in der eine Reihe von Dingen geschehen, deren Wirkung lange anhält. Vielleicht liegt es daran, dass sie sich während der letzten Häutung zutragen, die wir durchmachen und die unsere endgültige Gestalt festlegt. Und wem immer wir in dieser Zeit nahe sind, wovon wir besessen sind, das behält einen Einfluss auf unser gesamtes Leben. Für mich gehörte Deirdre O’Kelly wesentlich zu dieser prägenden Erfahrung, genau wie Ken. Und Manfred Günter.
Deirdre und ich lernten uns auf der zweiten Rainbow Warrior kennen, als Greenpeace das Schiff von Miami aus in den Golf von Mexiko schickte; wir sollten die Behauptung von Dorfbewohnern der Anrainerstaaten untermauern, Pemex, die gigantische Ölkompanie, würde giftige Raffinerieabfälle in den Wäldern und Feuchtgebieten der Region entsorgen. Deirdre war bereits vor der Atlantiküberfahrt in Dublin zur Mannschaft gestoßen, doch während ich einen langweiligen Job gegen etwas Aufregenderes eintauschte, floh sie aus einem Leben am Rande des Müßiggangs, nachdem ihr verstorbener Vater Deirdre und ihrem Zwillingsbruder ein beträchtliches Erbe hinterlassen hatte, das ein sehr erfolgreiches Pub-Unternehmen mit einschloss. Trotz ihres familiären Hintergrunds war Deirdre das, was die Iren einen »Charakter« nennen, eine extrovertierte Persönlichkeit mit viel Humor, eine begnadete Sängerin und Entertainerin.
Meine Hoffnung auf aufregende Zeiten erfüllte sich bald, als wir an Bord einer aufgegebenen Ölplattform gingen, aus der Öl ins Meer lief, während eine Korvette der mexikanischen Marine sich die ganze Zeit zur Einschüchterung in der Nähe aufhielt. Anschließend zeigte uns die Landbevölkerung, wo Giftmüll in Teichen und Mangrovensümpfen entsorgt wurde, und wir beobachteten die Arbeitsbedingungen von ölverschmierten Jungen im Teenageralter, bekannt als chaperos - Teermenschen -, denen man ein paar Dollar dafür bezahlte,
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