Das Megatrend-Prinzip - wie die Welt von morgen entsteht
reichhaltiges, vielgestaltiges, verwobenes Gefüge aus vielen Erklärungen und Erklärungsebenen, die integriert werden müssen, um zur Grundlage für effiziente Voraussagen und Handlungen zu werden.« So formuliert es die Systemforscherin und Biologin Sandra Mitchell in ihrem wunderbaren Buch »Komplexitäten«. 1 Es sind vor allem drei neue »Schnittstellen-Wissenschaften« die uns bei diesem Integrationsversuch helfen können:
Die soziale System- und Spieltheorie . Mitten im Kalten Krieg entwickelten Supernerds wie John von Neumann, Thomas Schelling und John Nash die Grundlagen einer Disziplin, die die Interaktionen von Menschen als »fortlaufende Spiele« begreift. Zunächst nur in militärischen Planspielen angewandt, hat die Spieltheorie seitdem gewaltige Fortschritte gemacht. Heute lassen sich ganze soziale Systeme im Rahmen von computergestützten Modellen simulieren. Wie große Gruppen von Einzelwesen in bestimmten Kontexten agieren, wie sich Krisen und Kooperationen entwickeln, ist inzwischen kein Buch mit sieben Siegeln mehr.
Die Kognitionspsychologie , neuerdings im Verbund mit der Hirnforschung, handelt von der Frage, wie Menschen ihre Umwelt »codieren« – und welche Entscheidungen und Handlungen daraus folgen. Die Pioniere Daniel Kahneman und Amos Tversky zeigten schon vor zwanzig Jahren, wie unhaltbar die Vorstellung eines ausschließlich rational handelnden Menschen ist. In unserem Hirn läuft eine ständige Musterbildung ab, indem Meme (kulturelle Informationseinheiten, analog zu Genen) und Ängste, Erwartung und Vermeidung gegeneinander abgewogen werden. Die Muster »produzieren« Zukunft, indem sie durch Erwartungshaltungen selbsterfüllende Prophezeiungen erzeugen.
Die erweiterte Evolutionswissenschaft . Seit Charles Darwin vor zweieinhalb Jahrhunderten die Grundprinzipien der Evolution beschrieb, hat dieser Begriff eine schwierige Karriere hinter sich. »Darwinismus« bedeutet auch heute noch in den Köpfen vieler Menschen einen Kampf auf Leben und Tod, bei dem immer nur eine Seite gewinnen kann. Aber die Welt basiert auf Co-Evolution, nicht auf Überlegenheit und Unterwerfung. Mit ihren zwei Hauptzweigen, der evolutionären Psychologie und der evolutionären Systemwissenschaft hilft, uns die neue Evolutionswissenschaft, Menschen als »kooperierende Überlebenswesen« zu begreifen. Warum und auf welche Weise wir Schönheit präferieren, Reichtum und Status anstreben, aber auch Empathie empfinden, wie ökonomische Krisen eskalieren, Firmen prosperieren oder sich eine schreckliche Krankheit wie Krebs entwickelt, unterliegt letztlich evolutionären Prozessen.
An den Schnittstellen dieser drei Metadisziplinen entsteht heute eine ganzheitliche Weltwissenschaft des Wandels. Ich nenne sie auch evolutionäre Prognostik, eine Disziplin, die sich aus den Teildisziplinen der Trend- und Zukunftsforschung zusammensetzt und diese mit den drei genannten Systemwissenschaften kombiniert.
Nach einem Bonmot von Malcolm Gladwell gibt es einen grundlegenden Unterschied zwischen einem Geheimnis und einem Rätsel. Ein Rätsel können wir durch simple Information lösen. Ein Geheimnis hingegen ist keine Frage der Information, sondern des Kontextes, des Bewusstseins. Um ein Geheimnis zu verstehen, müssen wir uns selbst und unsere Wahrnehmungsmuster verändern.
Das Geheimnis der Zukunft können wir nur lösen, wenn wir die richtigen Fragen stellen: Worauf können wir bauen? Worauf vertrauen? Wo liegen nicht nur die Brüche, sondern die Kontinuitäten der Geschichte? In diesem Buch möchte ich die Melodie hörbar machen, die Vergangenheit und Zukunft verbindet.
Wien, Sommer 2011
ERSTER TEIL
Das Geheimnis des Fortschritts
Fortschritt ist das Werk der Unzufriedenheit.
JEAN-PAUL SARTRE
Fortschritt wird von faulen Menschen vorangetrieben, die nach bequemeren Wegen suchen, etwas zu erledigen.
ROBERT A. HEINLEIN
Man muss sich nämlich darüber im Klaren sein, dass es kein schwierigeres Wagnis, keinen zweifelhafteren Erfolg und keinen gefährlicheren Versuch gibt … als eine neue Ordnung einzuführen.
NICCOLÒ MACHIAVELLI
1 Im Orbit
Das Fenster mit der besten Aussicht auf die Welt befindet sich auf einer Umlaufbahn in einer Höhe zwischen 350 und 460 Kilometern über der Erde. Es besteht aus sechs in konischem Winkel um ein rundes 80-cm-Bullauge angeordneten Glasflächen aus supergehärtetem Borosilikatglas, massive acht Zentimeter dick, versehen mit schließbaren Kevlar-Stahlblenden gegen
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