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Das Missverstaendnis

Das Missverstaendnis

Titel: Das Missverstaendnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irene Nemirovsky
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ist das Hexenhaus aus dem Märchen«, sagte Denise.
    Irgendwo schlug eine alte Uhr langsam und feierlich die Stunde.
    Sie gingen.
    Ihr Auto stand vor dem Bistro. Sie stiegen ein und fuhren los, doch nach kaum zehn Metern blieb der Wagen stehen. Jaja öffnete die Kühlerhaube, untersuchte den Motor und fluchte.
    »Was ist los?«
    »Das dauert eine Dreiviertelstunde, mindestens …«
    »Das ist ziemlich lang«, sagte Denise besorgt.
    Jean-Paul dachte nach. Schließlich kam er zu dem Schluß:
    »Na gut. Ich lasse den Wagen bei Père Chose, dem Bistrowirt. Es gibt hier eine kleine Werkstatt. Morgen komme ich wieder. Wir fahren mit dem Taxi zurück.«
    Doch das war leichter gesagt als getan. Die Gasse war ruhig und menschenleer wie eine Vorstadtstraße, und so laut sie auch riefen – kein Taxi tauchte auf. Nach zehn Minuten zockelte lediglich eine Droschke vorbei, uralt und mit riesengroßen Rädern, einem Kutscher in einem altmodischen Rock und einem einzigen mageren Pferd, beide mit gesenktem Kopf. Vor dem Hintergrund der abendlich stillen Häuser wirkte das alte Gespann irgendwie gespenstisch.
    Jaja und Denise riefen wie aus einem Mund:
    »Das nehmen wir …«
    »Mich erinnert das Ganze an Yvette Guilbert, ungefähr 1890«, bemerkte Jaja amüsiert.
    Der Kutscher hatte dem Pferd einen Hieb mit der Peitsche versetzt; es machte einen Satz, was wie der Anlauf zu einem Galopp wirkte, und fiel sogleich wieder in seinen langsamen Trab zurück. Und auch der Kutscher schien wieder einzuschlafen. Denise und Jaja saßen dicht nebeneinander in dem schmalen Gefährt; sie schwiegen. Eine angenehme Trägheit hatte sie erfaßt; Straßen und Plätze schienen ganz langsam auf sie zuzukommen, an ihnen vorbeizuziehen und zu verschwinden; die Straßenlaternen leuchteten zwischen breiten Schattenstreifen; die Pferdehufe hämmerten auf das Pflaster.
    Jean-Paul nahm Denise’ Hand.
    »Schläfst du?«
    »Nein.«
    Er hielt die kleine unbehandschuhte Hand in der seinen. Sie zog sie nicht zurück. Wozu auch? Etwas später sagte er: »Wir sind da.« Und er beugte sich über sie und berührte ihr Handgelenk mit den Lippen. Sie sagte nichts. Er hatte ihr schon oft die Hand geküßt. Doch diesmal wurde es ein längerer Kuß. Ein Drängen lag darin. Sie ließ ihn gewähren wie in einem zwiespältigen Traum, der nicht ohne Reiz ist …
    Die Droschke hielt. Er half ihr beim Aussteigen und verabschiedete sich dann so ruhig von ihr wie immer.
    »Gute Nacht, Denise, träum schön …«
    »Danke … du auch«, erwiderte sie mit einem etwas angestrengten Lächeln.
    In der Diele rief sie das Mädchen.
    »Marie, hat jemand angerufen?«
    »Nein, Madame, aber dieser Brief ist für Sie abgegeben worden.«
    Mit jäh einsetzendem schrecklichem Herzklopfen nahm Denise die Nachricht entgegen: Sie hatte Yves’ Handschrift erkannt. Es waren nur einige Worte.
    Verzeihen Sie mir bitte, daß ich nicht angerufen habe wie versprochen, aber ich war so düsterer Stimmung, daß ich es nicht über mich brachte.
Aber kommen Sie heute abend, wenn Sie frei sind.
    Ihr Y.
    Es gab ein Postskriptum, das lautete: Seien Sie mir nicht böse, meine kleine Denise.
    ›Es stimmt. Wenn er geruht, mit den Fingern zu schnipsen, laufe ich zu ihm und lächle auch noch dabei‹, dachte Denise.
    Sie fragte nach Francette, aß hastig zu Abend und ging.
    »Wenn Monsieur vor mir heimkommt, sagen Sie ihm, daß ich ins Kino gegangen bin.«
    Yves erwartete sie. Er rauchte. Seit einer Woche tat er kaum noch etwas anderes. Noch immer keine Nachricht von Vendômois. Doch durch das Übermaß an Sorge hatten sich seine Gefühle abgestumpft, und er war wieder so leichtfertig und nachlässig geworden, wie es seinem eigentlichen Charakter entsprach. Er hoffte, daß irgendein Wunder geschähe.
    Von Denise hatte er Vorwürfe, Tränen und Fragen erwartet und war überrascht von ihrem ruhigen, gleichgültigen und sanften Auftreten, dem eigenartigen Blick, den sie auf ihn richtete. Sie liebten sich; sie spürte deutlich, daß er in ihren Armen Vergessen suchte; doch sie blieb kühl und wachsam, als würde sie auf etwas in sich selbst oder in ihm lauern. Als sie gehen wollte, hielt er sie zurück und küßte sie.
    »Denise …«
    »Liebst du mich, heute abend?« fragte sie mit einem merkwürdigen kleinen Lächeln.
    »Ja.«
    Sie fragte erneut:
    »Bin ich – artig gewesen?«
    »Sehr artig«, sagte er obenhin.
    Und in ernsterem Ton fügte er hinzu:
    »So liebe ich dich, so sollst du sein …«
    »Ach … dann bist du

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