Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
Teil 1: Das Mädchen aus den Wäldern
Sie hatte den Tag am Waldrand verbracht, wie sie das häufig tat: Die Nähe der mächtigen Baumstämme und das Geräusch des Windes, der durch die Zweige fuhr, übten eine beruhigende Wirkung auf sie aus. Manchmal glaubte sie, in dem leisen Rauschen sogar die Wiegenlieder ihrer Mutter zu hören, auch wenn die Erinnerung daran bereits verblasste. Ihre Mutter hatte oft gesungen, bevor sie so schwer krank geworden war, und einige ihrer Lieder handelten tatsächlich vom Wind.
„Die Herbststürme haben mich in dieses Dorf geweht“, hatte sie einmal gesagt, und Reeva, damals kaum fünf Jahre alt, hatte ihr geglaubt. Es war besser, auf diese Geschichte zu hören als auf das Gerede der Dorfbewohner. Auch die wussten nicht, woher Reevas Mutter wirklich stammte, aber sie erinnerten sich an die junge Frau ohne Besitz und Vergangenheit, die von einem Bauern überraschend als Magd eingestellt worden war. Als man sie ein paar Monate später in Schimpf und Schande vom Hof gejagt hatte, trug sie bereits sichtbar ein Kind unter dem Herzen.
Das war etwas, worüber ihre Mutter niemals sprach. Reeva fragte auch nicht mehr nach ihrem Vater, seitdem sie einmal die Vermutung eines Dorfbewohners mitangehört hatte – vielleicht sei ja der Teufel selbst aus der Hölle heraufgestiegen, um die Magd zu schwängern … Schließlich schien das Kind, das in einer erbärmlichen, abseits gelegenen Hütte zur Welt gekommen war, dieses Gerücht zu bestätigen: Reevas linkes Bein war verkümmert und sollte immer kürzer bleiben als das rechte. Niemand glaubte, dass dieses schwache, verkrüppelte Geschöpf die Kraft finden würde, um aufzuwachsen; doch Reeva klammerte sich an ihr Leben, auch dann noch, als ihre Mutter bereits daraus verschwunden war. Sie nahm kleinere Arbeiten an, um sich ihr tägliches Brot zu verdienen, und durfte die Nächte in den Ställen verbringen, da sie aufpasste, dass keines der Tiere abhandenkam. Nachdem sie jahrelang so gelebt hatte, war sie davon überzeugt, dazuzugehören: wie ein Schatten zu dem, der ihn wirft.
Natürlich war es ihr aufgefallen, dass die Blicke der Dorfbewohner sich verändert hatten, seitdem sie kein kleines Mädchen mehr war. Aber sie maß diesem aufkeimenden Misstrauen keine weitere Bedeutung bei, und so traf es sie wie aus heiterem Himmel.
***
Es war ein milder Frühlingstag gewesen, doch nach dem Sonnenuntergang wurde es rasch kühler. Reeva sehnte sich nun nach der einzigen Wärme, die sie kannte: jener der dampfenden Schweineleiber im Stall. Sie schob den hölzernen Riegel zurück und wollte gerade die Tür öffnen, als sie von einer knochigen Hand an der Schulter gepackt wurde. Verwirrt drehte sie sich um und blickte in das Gesicht einer Bauersfrau. Ihr Mann war der Besitzer des Schweinestalls, und sie war bisher oft so freundlich gewesen, das Mädchen darin übernachten zu lassen.
Reeva spürte, dass die Frau aufgebracht war, aber sie verstand es nicht. Also lächelte sie die Bäuerin an und trat einen Schritt in den Stall hinein – doch die grobe Hand zerrte sie mit einem Ruck wieder ins Freie. „Verschwinde“, zischte die Frau, „du kommst mir nie mehr in die Nähe meiner Tiere!“
Das Mädchen bemühte sich, noch freundlicher zu lächeln. Es glaubte, die Bäuerin damit besänftigen zu können, auch wenn es den Grund ihres Zornes nicht kannte.
„Ich habe immer gut auf die Schweine aufgepasst“, sagte Reeva. „Ich werde auch heute Nacht gut aufpassen.“
„Aufgepasst?“, wiederholte die Frau schrill. Reevas Lächeln verschwand. „Sterben müssen sie nun alle, das sage ich dir!“
Von ihrer Stimme angelockt, hatten sich einige andere Dorfbewohner um die beiden versammelt. „Was ist denn geschehen?“, rief ein stoppelbärtiger Mann neugierig.
Die Bauersfrau wies mit zitterndem Zeigefinger auf Reeva, die sich verschreckt an die Hauswand drückte. „Dieses Mädchen, dieses Balg einer Teufelsbraut hat meinen Schweinen eine schlimme Krankheit angehext! Vor wenigen Tagen waren sie noch gesund und fett, aber nachdem sie hier im Stall geschlafen hat, liegen sie teilnahmslos im Stroh!“
Unruhe machte sich unter den Leuten breit, als eine andere Frau plötzlich kreischte: „Es ist wahr! Vor kurzem hat sie am Hühnerstall gestanden und so eigenartig gestarrt. Am nächsten Morgen lag meine beste Legehenne tot in einem Winkel! Es sind ihre Augen, hört ihr, sie hat den bösen Blick!“
Die Menschen drängten sich nun um Reeva,
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