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Das Missverstaendnis

Das Missverstaendnis

Titel: Das Missverstaendnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irene Nemirovsky
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könnten in den Bois fahren und deiner Tochter guten Tag sagen.«
    »Gut«, sagte Denise.
    »Setz deinen Hut auf, nimm deinen Umhang mit.«
    Denise klingelte dem Mädchen. Als es ihr den Umhang brachte, flüsterte sie ihm zu:
    »Wenn jemand für mich anruft, sagen Sie, daß ich zum Abendessen zurück bin und er noch einmal anrufen soll.«
    »Madame können ganz beruhigt sein.«
    Jean-Paul tat, als würde er hingebungsvoll an einem Blumenstrauß riechen, der auf dem Tisch stand.
    Er drehte sich um.
    »Komm, gehen wir …«
    Sie stiegen ins Auto. Jean-Paul war verliebt in sein Fahrzeug und pries es in höchsten Tönen.
    »Du wirst sehen, wie es die Kurven nimmt, wenn wir bis nach Saint-Cloud fahren. Und es ist so griffig zu fahren … ein Juwel, das sage ich dir, Denise …«
    Denise gab keine Antwort. Sie saß neben ihm und ließ sich den warmen Wind ins Gesicht blasen. Es war einer jener herrlichen Pariser Sonntage, an denen sich der blaue Himmel wie ein Stück neuer Seide ohne eine einzige schattige Falte über den Dächern spannt; die Trottoirs waren überfüllt mit flanierenden Kleinbürgern, die einen Ausdruck von Ruhe, von seliger Zufriedenheit auf den Gesichtern trugen. Allein die Weise, wie sie sich ganz ohne Hast bewegten, wies darauf hin, daß Feiertag war und daß sie alle zutiefst davon überzeugt waren, durch eine Woche eifriger Arbeit diesen schönen Tag, die Sonne, den Duft der früh blühenden Rosen verdient zu haben; sie waren nicht besonders hübsch, all diese braven Leute, und auch nicht gut gekleidet, doch ihr schlichtes Glück und ihre Geruhsamkeit teilten sich ihrer Umgebung mit. Denise lächelte bei ihrem Anblick, und ein eigenartiges, sehr sanftes und grundloses Gefühl von Frieden stieg in ihr auf.
    Jean-Paul bemerkte es. Er sagte:
    »Findest du sie lustig, all diese Leute?«
    »Ja, wirklich … Jean-Paul, fahr nicht so schnell … Ich sehe sie gern, ich weiß nicht, warum …«
    Jean-Paul gehorchte. Sie näherten sich dem Bois; die Straßen wurden immer voller. Dicke Frauen mit schwarzen Hüten, alte Frauen in Seidenkleidern, magere Männer, verbraucht von mühseliger Arbeit, und dann blasse Kinder, kleine Mädchen in weißen Kitteln, kleine Jungen in Matrosenanzügen … ›Selig die Armen im Geiste!‹ dachte Denise; und dieser ihr wohlbekannte Satz erhielt für sie auf einmal tiefen Sinn, wenn sie ihn auf diese bescheidenen Menschen bezog, die so tapfer ihre tägliche Pflicht erfüllten.
    Jean-Paul fragte:
    »Wenn sie dir soviel Spaß machen – wollen wir zum Montmartre fahren? Ich wette, daß du nie dort warst. Nur noch die Fremden kennen heute all diese Orte …«
    »Ich war einmal im Lapin Agile, mit den Clarkes.«
    »Man muß es sich ansehen, wenn es hell ist.«
    »Wirklich?«
    »Ja. Willst du? Im Pré Catelan siehst du nur eine Menge schöner Madames in Hispano-Suizas … und Francette braucht dich dort nicht … Man macht ihr bereits den Hof, das hat sie mir erzählt, weißt du … Ein kleiner Junge hat ihr ein Bonbon geschenkt. Sie hat es genommen und einem anderen geschenkt. Sie ist schon eine Frau. Wir würden sie nur stören …«
    »Wahrscheinlich hast du recht«, sagte Denise seufzend. »Aber was soll man machen? So ist das Leben … Im Moment mag sie ihren Roller lieber als mich … Später – bald – wird es ein Mann sein …«
    »Du bist ganz schön melancholisch, Denise …«
    »Nein, gar nicht …«
    Jean-Paul war schon abgebogen, und es ging in voller Fahrt in Richtung Montmartre; einige Minuten lang machte sich Jaja einen Spaß daraus, durch verwinkelte Sträßchen zu brausen, und bald waren sie bei der Metrostation Lamarck angelangt.
    Jean-Paul hielt vor einem kleinen Café; auf sein ungeduldiges Hupen hin erschien der Wirt in Hemdsärmeln vor dem Gebäude.
    »Guten Tag, Monsieur, auch mal wieder hier … Soll ich mich um den Wagen kümmern?«
    »Wie immer.«
    »Ein Gläschen für Madame?« fragte der Mann lächelnd.
    Denise nickte amüsiert. Augenzwinkernd flüsterte der Patron Jean-Paul zu:
    »Hübsches Mädchen.«
    »Fürchtest du dich vor den vielen Stufen?«
    »Überhaupt nicht.«
    Sie erkletterte mühelos eine Stufe nach der anderen; ihr heller Umhang flatterte hinter ihr in der Luft und warf anmutige Falten wie eine antike Draperie.
    Oben angekommen, blieb sie stehen, um Atem zu holen.
    »Es ist kühl …«
    Tatsächlich wehte ein vergleichsweise frischer Wind auf den Höhen des Montmartre. Denise trat an die Brüstung der kleinen Plattform, auf der sie

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