Das Missverstaendnis
Vorstellbaren. Wozu? Was er an ihr geliebt hatte, war ja gerade die Gewißheit gewesen, die sie ihm gab. Ihre schönen Augen, ihre Lippen, ihr schmaler Körper – andere Frauen waren genauso schön, aber nie hatte er dieses tiefe Vertrauen zu einer anderen Frau empfinden können. Es war also nicht der Mühe wert, es zu versuchen … Denise war gestorben. Er blieb stehen. Seine ziellose Wanderung hatte ihn in die Nähe des Sees geführt. Er näherte sich dem Ufer und starrte mit hartem Blick ins Wasser. Die Wellenbewegung ließ ihn etwas schwindeln, wie von einer leichten Übelkeit; das Wasser schimmerte schwach. Er ging weiter, bis der Bois hinter ihm lag, immer am Rand einer breiten, menschenleeren Straße entlang; dann bog er in eine Gasse ein und war plötzlich erschöpft. Er sah ein kleines Weinlokal vor sich, in dem noch Licht war, trat ein, ließ sich auf eine Bank sinken und bestellte etwas zu trinken. Man servierte ihm Wein. Er leerte sein Glas in einem Zug und schenkte sich sofort nach. Ein vages Verlangen danach, sich zu betrinken, stieg in ihm auf. Doch da der Wein schlecht war, wurde ihm nur übel. Er stellte das Glas ab, beugte sich vor und legte den Kopf in die Hände. Am Tresen saßen Arbeiter, tranken und unterhielten sich laut. Er hörte zu, ohne zu verstehen, was sie sagten. Der Klang menschlicher Stimmen tat ihm gut. Ein Wort drang ihm ins Bewußtsein: »Morgen.«
»Ach ja, morgen«, murmelte er.
Wie die Steine einer einstürzenden Mauer prasselten seine Sorgen wieder auf ihn nieder. Morgen. Wieder nichts von Vendômois. Kein Geld. In drei Tagen die Schulden fällig. Haß auf das Büro. Morgen. Die schreckliche Hitze. Und dann – nichts … Kein Licht am Horizont. Nacht, Leere … Alle Rettungsmöglichkeiten, die er sich ausgemalt hatte, wenn Vendômois ihm nicht zu Hilfe kommen würde – jetzt verwarf er sie mit haßerfüllter Dickköpfigkeit.
»Monsieur, wir schließen«, sagte der Wirt.
Er erhob sich mechanisch, zahlte und ging. Und dann ging er weiter, lange Zeit, hierhin und dorthin, ohne Ziel. Die Nacht verging. Auf einmal hob er den Kopf und erkannte sein Haus. Auch später hätte er nicht zu sagen gewußt, wie er dorthin gefunden hatte. Er stieg die Treppe hoch. In der Diele stieß er gegen etwas. Er beugte sich hinunter. Es war ein Koffer. Jeanne kam verschlafen aus dem Arbeitszimmer.
»Monsieur, da ist ein Herr, der auf Sie wartet.«
Er stieß die Tür auf – Vendômois.
Wie im Traum hörte er:
»Mein lieber Freund … Verzeih mir, wenn ich mich verspätet habe … Aber ich mußte dort oben alles ordentlich hinterlassen, verstehst du? … Aber sobald es ging, habe ich den Zug genommen … Besser, man spricht miteinander, statt immer nur Briefe zu schreiben, nicht? Und außerdem habe ich diesen Monat in Paris zu tun … Warum ich dir kein Telegramm geschickt habe? Aber so etwas ist nicht möglich in meinem kleinen Dorf mitten im Schnee. Und ein Brief wäre auch nicht eher angekommen als ich … Aber was ist denn los? Du machst ja ein Gesicht wie ein Mondkalb … Mach dir keine Sorgen … Alles kommt wieder in Ordnung, du wirst sehen …«
Yves fuhr sich mit zitternder Hand über die Stirn und antwortete lediglich: »Danke, danke«, mit tonloser Stimme, deren Klang ihn selbst überraschte. Vendômois fragte schnell:
»Mein Lieber? … Geht es dir nicht gut?«
»Nein, entschuldige bitte …«
»Ist es nur das Geld?«
»Nicht nur.«
Vendômois machte eine Handbewegung.
»Ach«, sagte er.
Yves lächelte voller Dankbarkeit; dieses männliche Feingefühl, das selbst das Mitleid für sich behält, war genau das, was er brauchte. Er sah seinen Freund an.
»Jean«, sagte er unvermittelt.
»Ja?«
»Wann fährst du wieder?«
»Übermorgen, zwei Uhr.«
»Kannst du noch achtundvierzig Stunden warten?«
»Ja.«
Er hatte den Kopf gehoben und betrachtete Yves aufmerksam. Dieser zog eine kleine Grimasse wie ein Kind, das gleich zu weinen anfängt:
»Jean – nimm mich mit.«
Vendômois zuckte die Achseln.
»Gut«, sagte er.
22
A n diesem Julimorgen wartete Denise in fieberhafter Ungeduld darauf, daß das Haus erwachte, damit sie sich anziehen und, ohne Argwohn zu erregen, ausgehen konnte. Die ganze Nacht hatte sie kein Auge zugetan. Eine schreckliche Unruhe hatte sich ihrer bemächtigt, und dieses Mal wußte sie, daß ihre Angst nur allzu berechtigt war. Eine Woche lang hatte sich Yves nicht gemeldet. Zunächst hatte sie sich nichts dabei gedacht. Doch nach einiger Zeit war
Weitere Kostenlose Bücher