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Das Missverstaendnis

Das Missverstaendnis

Titel: Das Missverstaendnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irene Nemirovsky
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ihr sein langes Schweigen merkwürdig vorgekommen. Zwei Tage hatte sie noch gewartet, dann hatte sie sich entschlossen, ihn anzurufen, und hatte zwanzig Minuten lang dem Echo des Klingeltons in der Wohnung gelauscht. Niemand hatte den Hörer abgenommen. Sie hatte es noch zwei, drei Mal versucht. Nichts. Es war unerklärlich. Sie hatte der Sache nachgehen wollen, als gerade ihr Mann zurückkehrte. Abends hatte sie sich nicht von der Stelle rühren können. Die Nacht war entsetzlich gewesen. ›Bestimmt ist er krank‹, dachte sie. Sie rief sich in Erinnerung, wie schlecht er schon seit einiger Zeit aussah. Vielleicht lag er in irgendeinem Krankenhaus? Mein Gott, mein Gott, wenn das wahr wäre, wenn er irgendwo weit weg wäre und litte, irgendwo in diesem großen Paris, ganz allein – sie würde alles verlassen, ihren Mann, ihr Kind, nur um bei ihm zu sein. Sie lag zusammengerollt auf ihrem Bett und stand Folterqualen aus, wenn sie an ihn dachte … Diese Nacht, die nicht enden wollte … Doch schließlich wurde es Tag. Sobald sie im Nebenzimmer ihren Mann hörte, der erwacht war, seinen nervösen Raucherhusten und seine Stimme, klingelte sie dem Mädchen. In einer Viertelstunde war sie gebadet und angezogen, und dann verließ sie das Haus.
    Es war ein gewittriger, drückender Julitag. Trotz der frühen Stunde stieg von dem überhitzten Asphalt schon ein ungesunder Dampf auf; gelbe, von der Hitze verbrannte Blätter fielen von den Bäumen. Im Taxi drückte Denise mit zusammengepreßten Lippen in fiebriger Nervosität ihre Hände. Das Taxi hielt. Da war Yves’ Haus. Wie üblich ging Denise mit gesenktem Kopf an der Hausmeisterwohnung vorbei und sprang mit wenigen Sätzen die Treppe hoch. Sie läutete. Der helle, trockene Ton der Klingel vibrierte. Sie wartete. Niemand kam. Sie läutete erneut, noch länger, und hörte, wie der Ton gellend durch die Zimmer hallte. Doch keine Schritte, kein Geräusch hinter der Tür. Da begann sie, mit den Fäusten gegen das Holz zu hämmern. Sie machte einen solchen Lärm, daß die Hausmeisterin kam.
    »Sie wünschen, Madame?«
    »Wo ist Monsieur Harteloup?« fragte Denise leise.
    »Er ist fortgefahren, Madame.«
    Als Denise sie wie betäubt ansah, erklärte die Frau:
    »Er ist nicht mehr in Paris.«
    »Ist er längere Zeit verreist?«
    »Ja, ich glaube schon … Er hat den Mietvertrag aufgelöst. Morgen früh kommen neue Mieter.«
    »Wohin ist er gefahren?«
    Sei es, daß die Hausmeisterin nichts sagen wollte, um sich keinen Ärger einzuhandeln, sei es, daß sie tatsächlich nichts wußte – sie schüttelte jedenfalls nur den Kopf.
    »Sie wissen es nicht?«
    »Nein.«
    »Gut«, murmelte Denise.
    Es war, als hätte man ihr einen Schlag mit einer Keule versetzt. Sie kam nicht einmal auf den Gedanken, hart näckig weiterzufragen, die Frau mit einem Trinkgeld gesprächig zu machen. Blitzartig fiel ihr ein, daß sie als kleines Kind oft geträumt hatte, daß ihr Vater starb. Viele Male war sie schweißüberströmt aus diesem schrecklichen Alptraum aufgefahren. Es war vielleicht eine Vorahnung gewesen; vielleicht hatte man vor ihr von der Herzkrankheit gesprochen, an der er litt. Jedenfalls war er plötzlich wirklich so gestorben, wie sie es dutzendemal in ihren Träumen gesehen hatte. Sie erinnerte sich daran, wie dieses schreckliche Ereignis sie betäubt und tief bekümmert hatte. Es war also möglich. So etwas konnte geschehen. Seit langem hatte sie es auf dunkle Weise gewußt. Jetzt überwältigte sie vor Yves’ verschlossener Tür ein ähnliches Gefühl von Unvermeidbarkeit. Ihre Ängste, ihre Unruhe, ihr verzweifeltes Bedürfnis, den Geliebten immer an ihrer Seite zu haben, das tiefe Elend, in das sie stürzte, wenn er nur zwei Tage nicht dagewesen war – war das alles nicht die Ahnung des Kommenden gewesen? Diese abweisende Tür, dieser grelle Klingelton in der leeren Wohnung, diese entsetzliche Schwäche ihres ganzen Seins, hier, auf der sonnenbeschienenen Treppe, vor dieser gleichgültigen Frau. Ohne ein Wort zu sagen, begann sie die Treppe wieder hinabzusteigen, mit vorgewölbten Schultern, als hätte sie einen Schlag in den Nacken erhalten. Am Fuß der Treppe blieb sie stehen. Ihr Herz setzte kurz aus. Wie oft hatte sie sich hier die Handschuhe übergestreift, den Hut zurechtgerückt, wie oft sich auf der Schwelle dieser Toreinfahrt das Gesicht gepudert, bevor sie auf die Straße hinausgegangen war. Und jetzt – nie wieder, nie wieder … Sie hörte sich selbst laut

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