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Das Mitternachtskleid

Das Mitternachtskleid

Titel: Das Mitternachtskleid Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Terry Pratchett
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realer und fließender wurde. Oder, wie Nanny Ogg den Zustand nennen würde: numinos , ein ungewohnt feierliches Wort aus dem Mund einer Frau, von der man üblicherweise eher Sätze zu hören bekam wie: »Ein Schnäpschen bitte, und am liebsten gleich ein doppeltes. « Sie hatte Tiffany von den Zeiten erzählt, in denen man als Hexe offenbar noch ein bisschen mehr Spaß haben konnte. Zum Beispiel davon, wie man den Wechsel der Jahreszeiten beging; von den vielen Bräuchen, die nur noch in der Erinnerung der Menschen weiterlebten. Einer Erinnerung, die – wie Nanny Ogg sagte – tief und dunkel war, die atmete und nie verlosch. Von lauter kleinen Ritualen.
    Das Feuerritual hatte es Tiffany besonders angetan. Sie mochte Feuer. Es war ihr Lieblingselement. Da man früher glaubte, dass es sogar die Mächte der Finsternis in Schach halten konnte, heirateten die Menschen, indem sie zusammen über ein Feuer sprangen. 4 Anscheinend half es, dabei gleichzeitig einen kleinen Spruch aufzusagen, so berichtete es zumindest Nanny Ogg, die Tiffany diesen Spruch auch prompt verraten hatte. Seitdem ging er ihr nicht mehr aus dem Kopf. So war es oft, wenn Nanny Ogg etwas erzählte: Es blieb irgendwie kleben.
    Doch diese Zeiten waren schon lange vorbei. Heutzutage ging alles viel gesitteter zu – außer bei Nanny Ogg und dem Riesen.
    Es gab noch andere Scharrbilder im Kreideland. Darunter auch das Weiße Pferd, das, wie Tiffany sich zu erinnern glaubte, einmal sogar aus dem Boden hervorgebrochen und im Galopp angeprescht gekommen war, um sie zu retten. Sie konnte nur hoffen, dass der Riese nicht auf dieselbe Idee verfallen würde. In aller Eile eine sechzig Fuß lange Hose aufzutreiben wäre wahrhaftig kein Kinderspiel, obwohl gerade Eile das Gebot der Stunde gewesen wäre.
    Tiffany selbst hatte nur ein einziges Mal über den Riesen gekichert, und das war schon sehr lange her. Eigentlich gab es nur vier Sorten Menschen auf der Welt: Männer, Frauen, Zauberer und Hexen. Die Zauberer lebten überwiegend in den Universitäten der großen Städte und durften nicht heiraten. Die Gründe dafür waren Tiffany vollkommen schleierhaft. Aber ins Kreideland verirrte sich sowieso kaum je einer von ihnen.
    Hexen waren eindeutig Frauen, doch die meisten der älteren, die Tiffany kannte, hatten auch nie geheiratet. Was zum einen daran lag, dass Nanny Ogg fast alle in Frage kommenden Männer aufgebraucht hatte, und zum anderen wohl auch daran, dass sie für so etwas viel zu beschäftigt waren. Natürlich kam es hin und wieder vor, dass eine Hexe einen Ehemann an Land zog, der etwas hermachte, wie zum Beispiel Magrat Knoblauch aus Lancre, die allerdings, nach allem, was man so hörte, in jüngster Zeit nur noch Kräuterkunde betrieb. Aber die einzige junge Hexe, von der Tiffany wusste, dass sie überhaupt Zeit für einen Verehrer hatte, war ihre beste Freundin aus den Bergen. Petulia, die sich auf Schweinemagie spezialisiert hatte, war mit einem netten jungen Mann verlobt, der eines Tages die Schweinefarm 5 seines Vaters erben würde, also praktisch ein Adliger war.
    Doch Hexen sind nicht nur viel beschäftigte Leute, sie sind auch anders . Das hatte Tiffany schon in sehr jungen Jahren erfahren müssen. Man lebte unter den Menschen, aber man gehörte nicht dazu. Es gab immer eine Kluft, eine gewisse Distanz, auch wenn man selbst gar nichts dazu beitrug. Es war einfach so. Die Mädchen, mit denen Tiffany schon als Hemdenmatz gespielt hatte, machten heutzutage einen kleinen Knicks, wenn sie ihr begegneten, und sogar alte Männer lüfteten vor ihr den Hut – falls sie einen besaßen.
    Das taten sie allerdings nicht nur aus Respekt, sondern auch aus Angst. Hexen hatten Geheimnisse. Sie waren jederzeit zur Stelle und halfen, wenn ein Kind auf die Welt kam. Man wusste sie gern um sich, wenn man heiratete (damit sie einem Glück brachten oder wenigstens kein Unglück). Und beim Sterben hatte man ebenfalls eine Hexe an seiner Seite, die einem den Weg wies. Hexen hatten Geheimnisse, die sie niemandem preisgaben … höchstens anderen Hexen. Denn wenn sie unter sich waren, wenn sie sich auf einem Berg versammelten, um sich ein Gläschen oder zwei zu genehmigen (beziehungsweise ein Gläschen oder neun wie im Fall von Frau Ogg), schnatterten sie wie die Gänse.
    Nur nicht über die wahren Geheimnisse. Was man getan, gehört und gesehen hatte, behielt man für sich. So viele Geheimnisse, dass man Angst haben musste, sie würden aus einem heraussickern.

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