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Das mittlere Zimmer

Das mittlere Zimmer

Titel: Das mittlere Zimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Lempke
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die Sache anzusehen.“ Der Doktor legte eine kurze taktische Pause ein. „Was sie fanden, war ein Kreis von einem halben Meter Durchmesser, in dem das Korn zu Boden gedrückt, hellblau verfärbt und irgendwie durchscheinend geworden war.“
    Seit der Doktor den ,blauen Blitz‘ erwähnt hatte, hielt Rike den Atem an. Jetzt atmete sie mit offenem Mund weiter. Ihr Magen schmerzte ein wenig. Ihr fiel auf, dass Achim dem Doktor genauso gebannt lauschte wie sie selbst.
    Wolter rückte erneut die Brille zurecht und beugte sich vor. „Ein paar Jahre später verschwand wohl der seltsame Kreis. Der Bauer, dem die Felder und Weiden ringsum gehörten, war überzeugt, dass das Getreide auf seinen Feldern und das Gras auf seinen Wiesen dichter und saftiger wuchs als auf denen der anderen Bauern. Aber das ist natürlich nur ein Gerücht, das sich nicht nachprüfen lässt.“
    „Ja, wie sich überhaupt die ganze Geschichte nicht nachprüfen lässt!“ , spottete Achim und schenkte sich (und nur sich) ein halbes Glas Wein ein.
    „Stimmt“ , pflichtete der Doktor ihm bei und ließ ein nachsichtiges Lächeln sehen. „Aber das, was jetzt kommt, lässt sich sehr wohl nachprüfen.“
    Achim legte fragend den Kopf schräg, auf den Lippen die Andeutung eines Grinsens, Frau Wolter verdrehte die Augen, und Rikes Herz begann aufgeregt schneller zu schlagen. Was jetzt? Was kam jetzt noch?
    „Nun, der älteste Sohn des Bauern“, hob Dr. Wolter an, „baute ungefähr 20 Jahre später genau auf die Stelle, in die der Blitz gefahren war, das Haus, in dem wir hier sitzen. Vielleicht dachte er, wenn die Weide gut gedeiht, dann ist der Ort auch gut für seinen Geldbeutel und seine Gesundheit. Aber da irrte er sich. Man weiß nicht, was er in dem Haus erlebt hat, aber nach ein paar Jahren verließ er es und schenkte es seinem Bruder.“ Wolter legte die Stirn in Falten. „Der Bruder wurde zum Eigenbrötler, heiratete nie, vernachlässigte sein Vieh und seine Landwirtschaft, seine Schulden wuchsen, und irgendwann verschwand er in einer Irrenanstalt, wie das damals hieß.“
    „Das ist zwar tragisc h, aber doch nicht ungewöhnlich“, bemerkte Achim, der sich im Sessel zurückgesetzt hatte, das Weinglas in der Hand, immer noch einen leicht spöttischen Zug um den Mund.
    „Richtig. Früher landeten viele unverheiratete, verschuldete Bauern in der Irrena nstalt“, sagte Wolter mit einem Gesicht, als meine er es ernst. „Jedenfalls stand das Haus eine ganze Weile leer. Niemand aus der Umgebung wollte darin wohnen. Bis sich ein paar Jahrzehnte später eine Familie aus dem benachbarten Ausland hier niederließ. Jahrelang hörte man so gut wie nichts von den Leuten.“
    Wolter räusperte sich und fuhr nach einem Seitenblick auf seine Frau, die die Arme fest vor der Brust verschränkt hatte und einen uninteressierten Eindruck zu vermitteln versuchte, fort. „Ich fasse mich kurz: Verwandte der Familie versuchten vergebens, die Leute zu erre ichen. Sie schalteten die Polizei ein, und die fand auf dem Dachboden des Hauses den Vater, der sich gerade umgebracht und seine drei Kinder mit in den Tod genommen hatte. Die völlig verstörte Frau kehrte zurück zu ihren Verwandten im Ausland.“
    Wieder eine Pause und ein eindring licher Blick zu Rike hinüber. „Wiederum viele Jahre später bezog ein kinderloses Ehepaar das Haus. Die beiden lebten lange Zeit völlig unauffällig. Aber dann, so heißt es jedenfalls, verloren sie den Verstand und wurden in eine Anstalt eingewiesen. Danach ließ sich das Haus kaum noch verkaufen. Falls sich überhaupt jemand da einmietete, blieb er nur ein paar Wochen. Die Familie, die das Haus vor Ihnen bewohnt hat … ist das nicht auch schon wieder gut zehn Jahre her, Helga?“ Er sah seine Frau an und Helga nickte. „Also die Familie fand auch kein gutes Ende. Der Vater erschoss die beiden Kinder, seine Frau und dann sich selbst.“
    Wolter blickte Rike lange in die Augen, mit einem angedeuteten Lächeln. Oder bildete sie sich das nur ein?
    E inen Moment lang wusste sie nicht, ob sie mehr von Wolters bernsteinbraunen Augen oder von der grässlichen Geschichte fasziniert war. Als sie seinen Blick nicht mehr aushielt, schaute sie zu Hannah hinüber und fragte: „Hat man denn nie nachgeforscht, warum die Leute verrückt geworden sind?“
    „Man hat die Menschen in den Irrenanstalten gefragt, was passiert ist.“ Wo lters Stimme klang angenehm und beruhigend, obwohl das, was er sagte, das genaue Gegenteil war. „Sie

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