Das mittlere Zimmer
behaupteten, sie dürften nicht darüber reden. Das Haus wurde auch schon von Experten begutachtet - aber so weit ich weiß, haben die alle nichts Ungewöhnliches gefunden.“
Aus dem Augenwinkel sah Rike, wie Achim mit zufriedener Miene einen Schluck Wein nahm. Ihr lag eine Frage auf der Zunge, aber sie ließ sich einfach nicht stellen. Warum wurde im Keller nichts gefunden? Wieso nicht?!
Frau Wolter beugte sich vor, griff sich ein Dutzend Salzstangen und bemerkte, zu Rike g ewandt: „Nun lassen Sie sich bloß keine Angst einjagen, Frau Eberhardt. Sie wissen doch, wie das ist: jeder, der die Geschichte weitererzählt, packt noch was obendrauf, und am Schluss gibt’s statt einem Toten deren zehn!“
Achim hob sein Glas, grinste und rief: „Genau!“
„Ja, das kann sein.“ Dr. Wolter schenkte Rike einen lächelnden Blick, der zu sagen schien: Wir beide wissen es besser, nicht wahr? Ein kaum erträglicher Impuls hätte sie fast dazu getrieben, alles zu erzählen, alles herauszuschreien, die ganze Welt über den Schrecken, der in diesem Haus lauerte, aufzuklären. Aber etwas in ihr verbot es. Es ging nicht. Sie konnte nicht. Sie durfte nicht.
„Ich wollte Ihnen auf keinen Fall die Freude an Ihrem Haus verderben, Frau Ebe rhardt“, hörte sie Wolter wie von ferne sagen.
Jetzt mischte sich Achim energisch ein, was gut so war, denn Rike hätte keinen Ton herau sgebracht. „Die lassen wir uns auch nicht verderben! Jetzt verstehe ich auch, warum das Haus so preiswert war. Und Ihnen versprechen wir, dass wir weder den Verstand verlieren noch uns gegenseitig umbringen werden.“
„Das würde mich freuen“ , meldete sich Frau Wolter und strahlte Achim an. „Ich finde Sie nämlich alle beide sehr sympathisch.“
„Ja, da bin ich mit ihr einig“, versicherte Wolter, legte einen Arm um ihre Schultern und drückte ihr schnell ein Küsschen auf die Wange. Dann fragte er: „Von wem haben Sie das Haus eigentlich gekauft?“
Achim zögerte. Also antwortete Rike. „ Eine Immobilienfirma hatte es angeboten. Sie hat das Haus im Auftrag eines vermögenden und im Ausland lebenden Herren verkauft.“
„So, so, sehr mysteriös. Das passt zum Rest der Geschichte, nicht wahr?“ , stichelte der Doktor, schnitt aber plötzlich ein ganz anderes Thema an. „Was halten Sie denn von den Reformplänen unserer Bundesregierung?“
Da er sie ansah, fühlte sich Rike persönlich angesprochen,
„Ich finde, es wird zu viel geredet und zu wenig getan!“, behauptete sie umfassend und allgemein, und Achim nickte.
Wolter lächelte. „Ich persönlich halte ja die Politiker aller Parteien für hervorragende Scha uspieler.“
„Wie kommen Sie darauf?“ wollte Rike wissen.
„Es kann doch nicht sein“, erläuterte der Doktor, leicht vorgebeugt und mit ernstem Ausdruck in den hellbraunen Augen, „dass sich erwachsene Frauen und Männer so unreif verhalten wie Kinder im Vorschulalter! Die sind ja bekanntlich frei von jeglicher Selbstkritik ... und jeglichem Verantwortungsbewusstsein! Also müssen die Politiker uns das vorspielen, oder?“
Wolter machte ein so verzweifeltes Gesicht, dass Rike lachen musste. „Ja, das wü rde manches erklären!“
Jetzt lächelte Wolter wieder und wechselte erneut abrupt das Thema. „Intere ssieren Sie sich für klassische Musik, Herr Eberhardt?“
Achim sah ihn an, als hätte er nach der Postleitzahl von Kalkutta gefragt. Sein rechtes Auge zuckte zweimal kurz hintereinander. Man merkte, wie es in seinem Verstand arbeitete. Schließlich informierte er den Doktor: „Das ist nicht unbedingt meine Richtung. Ich bin überhaupt komplett unmusikalisch. Warum fragen Sie?“
„Weil ich mich regelmäßig mit einem Freund zum Klavierspielen treffe, und ich dac hte, Sie hätten sich uns vielleicht anschließen wollen.“
Rike war massiv beeindruckt. Der Mann spielte Klavier, wie romantisch! Natürlich versuc hte sie, ihre Begeisterung zu verbergen, während Achim sofort einen Giftpfeil in Wolters Richtung abschoss. „Ich als Mann habe lieber eine Kreissäge in der Hand als Klaviertasten.“
Der Doktor ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und konterte: „Ich als Mann habe mich weiterentwickelt - ich kann mit beidem gut umgehen. Und nur für den Fall, dass Sie es nicht wissen: es gibt weit mehr berühmte Pianisten als Pianistinnen.“
Rike, die diese Tatsache nicht unkommentiert stehen lassen konnte, wollte eben eine Erkl ärung für das zahlenmäßige Missverhältnis zwischen männlichen und
Weitere Kostenlose Bücher