Das mittlere Zimmer
weiblichen Künstlern im Allgemeinen aus dem Hut ziehen, als sich der Doktor direkt an sie wandte und ihr wieder so tief in die Augen schaute, dass ihr ganz warm wurde.
„Ich weiß, was Sie sagen wollen, und ich stimme Ihnen zu. Frauen waren jahrhundertelang Opfer ihrer Fortpflanzung und männlicher Verdummungspolitik. Wären sie früher zu ihrem Recht gekommen, sähe die Welt vielleicht anders aus. Friedlicher und vernünftiger.“
Achim lachte amüsiert auf. „Jetzt bringen Sie auch noch Frauen und Vernunft in einen dire kten Zusammenhang?“
Wolter nippte an seinem Wein, lehnte sich zurück und schob die Brille zurecht. Er wirkte ernst. „Glauben Sie mir, Männer reagieren oft viel emotionaler als Frauen, sie verbergen es nur besser. Ein Beispiel: mit Ihrer Frau kann ich mich ganz vernünftig und sachlich unterha lten, Sie hingegen fühlen sich ständig von mir angegriffen und reagieren aggressiv und beleidigt wie eine Diva. Aber dafür haben Sie sicher eine sehr männliche Erklärung.“
Rike glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. Sie wagte fast nicht, Achim anzusehen. War er schon rot angelaufen? Platzte er schon vor Wut?
Seine Haut war tatsächlich gerötet, seine Arme vor der Brust verschränkt, sein Gesicht in einem spöttischen Lächeln erstarrt. Während er noch nach der passenden Antwort suchte, unternahm Rike einen ersten Versuch, die Wogen zu glätten.
„Ich finde es gut, wenn Männer ihre Emotionen ausleben!“ , tat sie kund und lächelte alle reihum strahlend an, damit auch jeder mitbekam, dass sie im Moment nicht den geringsten Wert auf Streit legte.
„So kann man es natürlich auch sehen.“ Der Doktor nickte verständnisvoll und begann int eressiert die breite Fensterfront zum Garten hin zu studieren, durch die die Aprilsonne ihre schrägen Strahlen schickte. „Haben Sie da einen Träger einziehen lassen?“, wandte er sich an Achim und wies mit dem Finger auf die Decke über den Fenstern.
„Sicher. Wir ha ben die halbe Wand rausgenommen“, erklärte Achim betont locker, obwohl seine Gesichtsfarbe noch nicht wieder bei normal angekommen war. „Das hat ein Heidengeld gekostet.“ Jetzt stand er auf und ging zur Terrassentür. „Vielleicht können Sie mir einen Rat für die Terrasse geben ... ich weiß noch nicht, ob ich sie machen lassen soll, oder ob ich das selbst schaffe.“
Wolter drückte sich etwas mühsam vom Sofa hoch und folgte Achim auf die zukünftige Te rrasse. Man hörte, wie sie sich scheinbar friedlich in ein Fachgespräch vertieften.
„Män ner sind schon komisch manchmal“, murmelte Rike, schenkte Frau Wolter noch ein Gläschen Wein ein und fragte: „Meinen Sie, wir sollten einen der alten Bäumen aus dem Garten werfen?“
Dieser Meinung war Frau Wolter überhaupt nicht. Sie hielt geradezu einen Vortrag über die Vorteile großer Bäume, und so verging eine gute halbe Stunde in Harmonie und ungefährl ichem Geplauder. Sogar Hannah nörgelte kaum herum.
Gegen sechs Uhr machten sich die Wolters auf den Heimweg. Sie standen schon neben einer Laterne auf dem gewundenen, gepflasterten Weg zur Straße hin, als sich Wolter umdre hte und Rike zulächelte.
„Nächstes Mal kommen Sie uns besuchen! Machen wir doch gleich einen Termin aus! Wie passt Ihnen der übernächste Sonntag?“
„Ach wissen Sie, im Moment haben wir noch so viel -“ , begann Achim mit bedauernder Miene, aber Rike fiel ihm ins Wort. „Sicher haben wir noch viel zu tun, aber wir können doch mal für eine Stunde zum Doktor rüberfahren! Ich sage Ihnen nächste Woche Bescheid, ob es klappt, in Ordnung?“
Wolter nickte, er und seine Frau hoben noch einmal die Hand zum Abschiedsgruß, dre hten sich um und gingen davon, der grauhaarige Doktor ein wenig steif in den Gelenken. Achim war schon im Haus verschwunden, als Rike sich umwandte. War er verärgert? Davon ließ er sich zumindest während des Abendessens nichts anmerken.
Auch danach, als Hannah schon im Bett lag, war er eher liebevoll zu Rike. A llerdings verlor sie kein Wort über die Unterhaltung mit dem Doktor, und Achim erst recht nicht.
Am nächsten Tag, als Achim im Geschäft war und Hannah ihren Mittagsschlaf hielt, saß Rike mit einer Zeitung im Wohnzimmer auf dem Sofa und nahm auf einmal ein außerordentlich mulmiges Gefühl in ihrem Magen wahr, ein zwiespältiges, unerklärliches Gefühl zwischen Angst und Sehnsucht. Sie erhob sich und begann unruhig durch das Haus zu wandern. Plötzlich stand sie vor der verschlossenen Kellertür,
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