Das mohnrote Meer - Roman
unter den anderen verteilen, wenn ich tot bin. Aber die Samen hier – die sind nur für dich.«
»Warum? Warum für mich?«
Sarju zeigte mit zitternder Hand auf die Bilder an dem Balken
über Ditis Kopf. »Weil ich da auch dabei sein möchte. Damit man sich an mich erinnert, in deinem Schrein.«
»Das wird man, Sarju- dīdī .« Diti drückte ihr die Hand. »Das wird man.«
»Und jetzt pack die Samen schnell weg, bevor die anderen kommen.
»Ja, dīdī, ja …«
Später brachte Diti Sarjus unberührtes Essen an Deck zurück und setzte sich zu Kalua, der unter den Davits kauerte. Während sie dem Seufzen der Segel lauschte, entdeckte sie ein Körnchen unter ihrem Daumennagel, einen einzelnen Mohnsamen. Sie rollte ihn zwischen den Fingerspitzen hin und her und sah an den zum Zerreißen gespannten Segeln vorbei zum sternenübersäten Himmelsgewölbe auf. In jeder anderen Nacht hätte sie nach dem Planeten Ausschau gehalten, der für sie stets der Lenker ihres Schicksals gewesen war, jetzt aber senkte sie den Blick wieder auf das Kügelchen, das sie zwischen Daumen und Zeigefinger hielt. Sie betrachtete es, als hätte sie so etwas noch nie gesehen, und plötzlich wusste sie, dass nicht der Planet ihr Leben bestimmte, sondern dieses winzige Samenkorn: Segen spendend und zugleich alles verschlingend, barmherzig und zugleich zerstörerisch, nährend und zugleich rachgierig. Es war ihr shani , ihr Saturn.
Als Kalua sie fragte, was sie da ansehe, schob sie ihm den Samen in den Mund.
»Hier«, sagte sie, »probier mal. Das ist der Stern, der uns von zu Hause fort und auf dieses Schiff gebracht hat. Das ist der Planet, der unser Schicksal lenkt.«
Der Erste Steuermann war einer von denen, die sich gern damit wichtig machen, dass sie sich Spitznamen für andere ausdenken. Wie alle, die sich diesen Spaß gönnen, benutzte er
diese Namen jedoch nur für die, die sich nicht wehren konnten. So gebrauchte er Kapitän Chillingworths Beinamen »Nuckel-Skipper« nur hinter dessen Rücken, während er Zachary direkt mit »Grünschnabel« anredete, jedoch im Allgemeinen nur dann, wenn sonst niemand in Hörweite war (ein Tribut an das kollektive Prestige der Sahibs und somit auch der Malums). Von den übrigen waren nur wenige bemerkenswert genug, um einen eigenen Spitznamen zu verdienen. Serang Ali – »Schnapplaus« – war einer von ihnen, während die Auswanderer nur allgemein als »Sklaven« von ihm tituliert wurden; die Silahdars und Mistris waren »Rum-Johnnys«, und die Laskaren nannte er »Sammys«.
Unter allen Menschen auf dem Schoner gab es nur einen, dessen Spitzname eine gewisse Kameraderie vonseiten des Ersten Steuermanns erkennen ließ: Subedar Bhairo Singh, den er »Fladengesicht« nannte. Was er nicht wusste: Der Subedar hatte auch einen Spitznamen für ihn, den er allerdings nur benutzte, wenn Crowle nicht zugegen war: Malum na-Malum (»Offizier Weißnicht«). Diese Symmetrie war kein Zufall, denn zwischen den beiden Männern herrschte eine natürliche Affinität, die sich sogar auf ihr Aussehen erstreckte. Der Subedar war zwar viel älter und dunkler, dickbäuchiger und mit mehr grauen Haaren, aber beide waren hochgewachsene Männer mit mächtigem Brustkorb. Sie verstanden sich auch so gut, dass nicht einmal die sprachlichen und gesellschaftlichen Barrieren eine Rolle spielten. Sie konnten sich fast wortlos verständigen und auch gewisse Vertraulichkeiten austauschen, die sonst bei zwei Männern so unterschiedlicher Position undenkbar gewesen wären; beispielsweise tranken sie hin und wieder zusammen ein Gläschen Grog.
Einer der vielen Punkte, in denen zwischen dem Subedar und dem Ersten Steuermann vollkommene Harmonie herrschte,
war ihre Einstellung zu Nil und Ah Fatt – den »zwei Jacks«, wie Mr. Crowle sie zu nennen beliebte (Nil war »Raja-Jack«, Ah Fatt »China-Jack«). Oft, wenn Bhairo Singh nachmittags die beiden Sträflinge auf dem Deck herumführte, beteiligte sich der Erste Steuermann an dem lustigen Spiel und feuerte Bhairo Singh an, wenn dieser die beiden Sträflinge mit seinem Stock vorwärtstrieb: »Ja, leg dich ins Zeug, Fladengesicht! Immer munter drauflos! Mach ihnen Beine!«
Ab und zu übernahm der Steuermann sogar die Rolle des Subedars. Mit einem Stück Tau peitschte er die Fußgelenke der Sträflinge, sodass sie hüpften und sprangen.
Diese Begegnungen fanden immer tagsüber statt, wenn die Sträflinge an Deck waren. Deshalb waren Nil und Ah Fatt sehr überrascht, als eines späten
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