Das mohnrote Meer - Roman
schien, als habe sich der letzte Lebensfunke aus ihrem Körper in ihre glühenden dunklen Augen zurückgezogen. Da sie nicht zu den Mahlzeiten an Deck konnte, brachten ihr die Frauen abwechselnd Essen und Wasser in den Laderaum hinunter, in der Hoffnung, ihr wenigstens eine Kleinigkeit einflößen zu können.
An diesem Abend war Diti an der Reihe. Während die meisten der Girmitiyas oben noch aßen, stieg sie in den nur von einigen Lampen erleuchteten, fast leeren Laderaum hinab. Sarjus abgehärmtes, ausgezehrtes Gesicht wirkte noch verlorener als sonst.
Diti setzte sich neben sie und versuchte einen fröhlichen Ton anzuschlagen. »Wie geht’s dir heute, Sarju- dīdī? Fühlst du dich besser?«
Statt einer Antwort hob Sarju nur den Kopf und schaute sich schnell im Laderaum um. Als sie sah, dass niemand in Hörweite war, fasste sie Diti am Handgelenk und zog sie zu sich heran. »Hör zu«, sagte sie, »hör mir zu. Ich muss dir etwas sagen.
»Ja, dīdī ?« »Ich halte das nicht mehr aus«, flüsterte Sarju. »Ich kann nicht mehr …« »Was redest du denn da?«, protestierte Diti. »Sobald du wieder richtig isst, geht es dir besser.«
Sarju winkte ungeduldig ab. »Hör zu«, sagte sie. »Wir dürfen keine Zeit verlieren. Es ist, wie es ist: Ich werde das Ende dieser Reise nicht mehr erleben.«
»Woher willst du das wissen? Du kannst dich doch wieder erholen.«
»Dafür ist es zu spät.« Sarju richtete ihre fiebrig glänzenden Augen auf Diti und flüsterte: »Ich habe mein Leben lang mit diesen Dingen zu tun gehabt. Ich weiß Bescheid, und bevor ich gehe, möchte ich dir etwas zeigen.«
Sie hob den Kopf von dem Stoffbündel, das ihr als Kissen diente, und schob es zu Diti hin. »Hier, nimm. Mach es auf.«
»Ich soll es aufmachen?«, fragte Diti verwundert. Noch nie hatte Sarju das Bündel vor irgendjemandes Augen geöffnet. Sie hatte ein solches Geheimnis um ihr Gepäck gemacht, dass die anderen oft darüber gescherzt und alle möglichen Vermutungen über den Inhalt angestellt hatten. Diti hatte sich nie daran beteiligt; Sarjus Verhalten war ihr wie die Marotte einer Frau in mittleren Jahren erschienen, die kaum etwas besaß, womit sie hätte prahlen können. Solche Marotten waren schwer abzulegen, und sie fragte Sarju deshalb vorsichtig: »Bist du sicher, dass ich hineinschauen soll?«
»Ja. Schnell, bevor die anderen kommen.«
Diti hatte angenommen, das Bündel enthalte nicht viel mehr als alte Kleider und vielleicht noch ein paar Kupfergeräte und Gewürze. Als sie die ersten Stofflagen zurückschlug, fand sie im Wesentlichen auch, was sie erwartet hatte: alte Kleider und einige Holzlöffel.
»Gib her.« Sarju schob eine dürre Hand in das Bündel und zog einen kleinen Beutel hervor, nicht größer als ihre Faust. Sie hielt ihn sich an die Nase, atmete tief ein und gab ihn dann Diti. »Weißt du, was das ist?«
Der Beutel fühlte sich an, als sei er mit winzigen Samenkörnern
gefüllt. Als Diti daran schnupperte, erkannte sie den Geruch sofort: »Hanf«, sagte sie. »Das sind Hanfsamen.«
Sarju nickte und gab ihr einen zweiten Beutel. »Und das hier?«
Diesmal musste Diti länger schnuppern, ehe sie erkannte, was er enthielt: Stechapfel.
»Weißt du, was Stechapfel bewirken kann?«, flüsterte Sarju.
»Ja.«
Sarju lächelte schwach. »Ich wusste es: Nur du kennst den Wert dieser Dinge. Vor allem von dem hier …«
Sie drückte Diti einen dritten Beutel in die Hand. »Der bedeutet unvorstellbaren Reichtum. Hüte ihn wie dein Leben – er enthält Samen des besten Benares-Mohns.«
Diti griff in den Beutel und rieb die Samen zwischen den Fingerspitzen. Das vertraute Gefühl versetzte sie in die Gegend von Ghazipur zurück, und plötzlich war es, als befände sie sich wieder mit Kabutri im Hof ihres Hauses und machte aus einer Handvoll Mohnsamen post . Wie war es möglich, dass sie, obwohl sie einen so großen Teil ihres Lebens mit diesen Samen zu tun gehabt hatte, weder den Weitblick noch die Klugheit besessen hatte, etwas davon mitzunehmen?
Diti wollte Sarju den Beutel zurückgeben, doch die Hebamme schob ihn wieder zu ihr hin. »Nimm ihn«, sagte sie. »Er gehört dir – und die anderen auch. Heb ihn auf. Mohn, Hanf, Stechapfel – mach das Beste daraus. Aber sag den anderen nichts davon. Zeig ihnen die Samen nicht. Sie halten sich viele Jahre lang. Versteck sie, bis du sie brauchen kannst, sie sind mehr wert als jeder Schatz. In meinem Bündel sind auch Gewürze, ganz normale, die kannst du
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