Wo der Elch begraben liegt
1
Schon von Weitem erkannte sie, dass er es war: der schlaksige, ausladende Gang, die selbstbewusste Haltung und die Art, wie seine Hand durch das lange schwarze Haar strich, wenn es ihm in die Augen fiel. Er hatte sie noch immer nicht gesehen. Frida verlangsamte unbewusst ihre Schritte.
Es war schwer zu erkennen, mit wem er da so intensiv diskutierte. Ein vom Schaufenster reflektierter Sonnenstrahl badete den Teil der Straße in ein blendendes Licht. Sie erkannte zwei Dozenten und ein paar Studenten aus dem dritten Semester, deren Namen sie nicht wusste. Peter kannte alle, konnte mit jedem reden. Sollte sie winken, um seine Aufmerksamkeit zu erregen? Doch was, wenn er sie nicht bemerkte? Das könnte peinlich werden. Oder was, wenn er sie sah, aber trotzdem nicht zurückwinkte, sondern nur mit einem distanzierten Kopfnicken reagierte? Das wäre noch schlimmer …
Auf ihrer Seite lag die Straße im Schatten. Im Dunkeln war sie unsichtbar. Trotz des leicht unangenehmen Gefühls, ihn verstohlen zu beobachten, konnte sie nicht anders, als im Schutz der rauen Ziegelmauer stehen zu bleiben. Sie wollte ihn nur beobachten, sehen, wie er sich bewegte, wie er die anderen zum Lachen brachte, wie er die Welt um sich herum in Besitz nahm.
Ein Gefühl von Stolz und Vorfreude auf alles, was sie gemeinsam unternehmen würden, ließ auf ihrem Gesicht ein unbewusstes Lächeln erscheinen. Sie drückte sich noch dichter an die Mauer. Im Schatten war sie sicher.
» Frida Fors?«
Frida drehte sich abrupt um und blickte in Janne Ahlséns fragende graublaue Augen.
» Was machen Sie hier?«
Während sie angestrengt nach einer Antwort auf die Frage suchte, fiel ihr auf, dass das Hemd unter seinem kamelhaarfarbenen Dufflecoat falsch zusammengeknöpft war.
» Ich… beobachte«, erwiderte sie, erleichtert darüber, dass ihr etwas eingefallen war. » Ich beobachte die Wirklichkeit. Sie sagen doch immer, dass eine gute Journalistin das tun soll.«
» Richtig. Aber vielleicht nicht gerade, wenn Unterricht ist.«
» Aber bin ich denn später dran als Sie?«
Aus dem Augenwinkel sah Frida, wie Peter und die anderen auf den Eingang der Schule zugingen und darin verschwanden.
Janne Ahlséns Gesicht verzog sich zu einem schiefen Lächeln. »Stimmt. Sie sind nicht auf den Mund gefallen. Wir sollten uns beide beeilen.«
Ein paar Minuten später hielt er Frida die gläserne Eingangstür auf, die in das betongraue, vierstöckige Haus aus den sechziger Jahren führte. An der Wand der senfgelb gestrichenen, von Neonröhren erleuchteten Eingangshalle hing ein großes bronzefarbenes Schild mit der Aufschrift: Journalistenhochschule. Gleich darunter hing ein kleineres Schild aus weißem Plastik mit schwarzem Text: Institut für Journalistik und Massenkommunikation Göteborg. Ein Pfeil zeigte zu einer Wendeltreppe. Das Geräusch trampelnder Schritte in Richtung der oberen Etagen hallte auf den Metallstufen wider. Sie trennten sich in der zweiten Etage. Janne Ahlsén ging ins Büro, Frida zu den Unterrichtsräumen.
Im Laufen zog sie den schwarzen Wollmantel aus, blieb kurz vor einem Spiegel stehen und richtete den kurzen Schottenrock, prüfte, ob der schwarze Kajal unter den Augen nicht allzu sehr verlaufen war, und hastete weiter in den Klassenraum. Die Sitzbänke waren in Zweierreihen angeordnet. Peter saß nahe bei der Tür. Der Platz neben ihm war bereits besetzt. Dort hockte Torkel aus Schonen, der jeden mit seiner Nörgelei in den Wahnsinn treiben konnte. Frida fluchte still in sich hinein und trat widerwillig zu einer Bank am Fenster. Als sie an ihm vorbeilief, zwinkerte ihr Peter unauffällig zu.
Sie setzte sich und suchte umgehend Blickkontakt. Er sah weg. Noch immer begriff sie nicht, wieso das Ganze so heimlich sein musste. Alle wussten schließlich, dass sie sich trafen. Wie war es ihm eigentlich gelungen, dass sie aus freien Stücken eine Rolle einnahm, die eine gewisse Unterordnung erforderte? Sie wusste es nicht. Bloß dass es sich gut angefühlt hatte, als er begann, an ihrer erkämpften Härte und ihrer stacheligen Oberfläche zu kratzen.
Wieder und wieder hatte er ihr versichert, dass sie in seinem Beisein nicht stark sein müsse. Niemals würde er ihr Vertrauen missbrauchen, wenn sie ihr kleines Leben nur in seine Hände legte und seinem Rat folgte, wie das Dasein zu bewältigen sei. Er hatte sie aufgefordert, sich zu entspannen, den Griff zu lockern und sich zu trauen, seine Ratschläge anzunehmen. Es war so einfach und
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