Das Mozart-Mysterium
nach unten durchzunummerieren, dann erklärte sie uns, was sie daraus ableiten konnte: »Ich lese nun die erste Zahl als senkrechte Zeilenangabe und die zweite Zahl als waagerechte Buchstabennummer, wenn alle Buchstaben einer Zeile von links nach rechts durchgezählt werden.«
Die betreffenden Buchstaben markierte sie mit Silberstift, sodass sich folgendes Bild ergab:
›An Paulu s ./
»Ich sinne wahrlich schon lang e , mein P aulus, bei mir selbst im Stillen/ nach, womit ich diesen Z u stand vergleichen soll: und ich kann dafür/ nirgends einen verwandteren Fall finden, als bei Menschen, die von/ einer l angen und s c hweren Krankheit aufgestanden, hier und da von/ kleinen R egungen und leichten Anfällen angegriffen, und wenn sie/ schon auch üb e r diese Krankheitsreste hinweg sind, doch noch von/ Besorgnissen beunruhigt werden und, schon genesen, doch noch von/ den Ärz t en sich den P u ls fühlen lassen und jede Wärme in ihrem/ Körper verdächtig finden. – Bei solchen, m ein Paulus, ist nicht etwa/ der Körper nicht völlig gesund, sondern er ist an die Gesundheit noch/ nicht gewöhnt, s o wie auch bei ruhigem Meer oder See noch eine Art/ von zi t ternder Bewegung statt findet, wenn schon der Sturm vertobt/ hat. Es braucht daher nicht jene stärkeren Mittel, von denen ich auch/ nicht reden will, du brauchst nicht bald dir selbst Gewalt anzutun, bald/ dich zu ärgern, bald nachdrücklicher gegen dich selbst zu verfahren,/ sondern, was freilich erst am Ende kommt, dir selbst zu vertrauen und/ zu glauben, daß du auf dem rechten Wege seiest, daß dich nicht die/ sich durchkreuzenden Wege anderer anfechten, die da- oder dorthin/ laufen und nicht selten um den Weg selbst herum ta p pen. – Übrigens/ ist, was du wünschest, etwas Großes, Erhabenes, Göttergleiches: nicht/ e rschü t tert zu werden. – Diese Festigkeit des Gemütszustandes nennen/ di e Griechen, wie Dir bekannt ist, Euthymia – worüber Democritus ein/ he r rliches Buch geschrieben; ich nenne es Gemüthsruhe. Seneca.‹
Wir schrieben alle Buchstaben nebeneinander und konnten daraufhin folgenden Begriff lesen: ›sepulcretumstpeter‹.
Mozart strahlte und löste das Rätsel weiter auf: »›Sepulcretum‹ heißt Friedhof, ›stpeter‹ ist sicherlich St. Peter, die Kirche mit dem nebenliegenden berühmten Felsenfriedhof und den Katakomben!«
Also machten wir uns auf, nun zu dritt, die Felsengräber zu erkunden und das Versteck der nächsten Mitgliedsgabe zu suchen. Wir gingen zu Fuß, da der St.-Peter-Friedhof nicht weit von uns entfernt lag, am Fuß des Mönchbergs, auf dem sich die düstere Festung Hohensalzburg erhob.
Da heute Samstag war, mussten wir uns unseren Weg durch die Marktstände bahnen, die vom nahen Ufer der Salzach her bis in die Getreidegasse aufgestellt waren. Laut riefen die Marktschreier und priesen ihre Waren in den höchsten Tönen. Bunt waren die Farben der ausgelegten Produkte; es gab hier alles Erdenkliche: unzählige Gemüsesorten und exotische Obstarten, die ich nicht kannte. Ich sah Fischhändler und sogar Gaukler, die Zauberkunststücke vorführten, auch ein kleines Kasperltheater. Vor diesem blieb ich einen Augenblick stehen, denn die vorgeführte Szenerie war eigentümlich: Kasperle öffnet eine goldene Truhe (sie mag auch mit gelber Farbe bestrichen worden sein) und daraus hervor stieg unter dem Gekreische der Zuschauermenge ein Knochenmann mit lachendem Gebiss.
Jemand nahm mich bei der Hand und zog mich weg, während ich irritiert zurückblickte: Ein Händler, der mich an seinen Stand führte, wo er mannigfaltige Gewürze feilbot, die teils in Büscheln vom Dach der Bude hingen und berauschende Düfte verbreiteten. Er versuchte, mich durch wilde Gestik und das Lobpreisen seiner Waren dazu zu bewegen, stehen zu bleiben, doch ich riss mich los und schloss zu Mozart auf, dessen Gestalt aus der Menge ragte.
Die Menschen standen so dicht und das Markttreiben war derart unübersichtlich, dass ich vorübergehend die Orientierung verlor. Nachdem wir um die Ecke von der Getreidegasse zur Residenz abgebogen waren, ließ das Gedränge nach und wir schlossen wieder zueinander auf. Zu meinem Entsetzen fehlte Therese!
Ich rief ihren Namen und rannte zurück in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Die Gasse schien mir viel breiter und unübersichtlicher als zuvor. Die Masse nahm mich wieder auf und trieb mich vor sich her. Menschen strömten so dicht und ruppig an mir vorbei, dass
Weitere Kostenlose Bücher