Das Multiversum 1 Zeit
»Etwas, das nicht so leicht absorbiert wird wie Photonen. Eine lange mittlere freie Weglänge. Neutrinos.«
»Die rotierenden Geister.« Dan rülpste und nahm einen Schluck Bier. »Nichts absorbiert Neutrinos.«
Emma runzelte die Stirn. Sie wusste nicht genau, was ein Neutrino überhaupt war. »Wie wollen Sie einen Neutrino-Sender bauen? Ist das teuer?«
Cornelius lachte. »Das kann man wohl sagen.« Er zählte die Möglichkeiten an den Fingern ab. »Man löst einen neuen Urknall aus. Man löst eine Supernova-Explosion aus. Man fährt ein Kernkraftwerk hoch und runter. Man führt eine hoch energetische Kollision in einem Teilchenbeschleuniger herbei…«
Malenfant nickte. »Emma, das wollte ich dir sagen. Du musst einen Beschleuniger für mich finden.«
Jetzt ist es genug, sagte sie sich.
Emma stand auf und nahm Malenfant beiseite. »Malenfant, komm mal wieder zur Besinnung. Cornelius erzählt dir hier was vom Pferd. Er hat nichts vorzuweisen, nichts außer verqueren Argu-menten, die auf bizarren Statistiken beruhen und Spielereien mit High-Tech-Spielzeug. Er spinnt eine Art schizoides Netz und zieht dich hinein. Das muss aufhören, ehe …«
»Wenn im Cockpit etwas schief läuft, gibt man nicht gleich auf«, sagte er schroff. »Man versucht etwas anderes. Und dann wieder etwas anderes. Immer wieder, bis man etwas findet, das funktioniert.
Hab etwas Vertrauen, Emma.« Emma machte den Mund auf, aber er hatte sich schon wieder Dan Ystebo zugewandt. »Und nun sagen Sie mir, wie wir diese verdammten Neutronen nachweisen.«
»Neutrinos, Malenfant…«
97
Cornelius beugte sich zu Emma hinüber. »Der Wheeler-Feynman-Kram kommt Ihnen vielleicht unheimlich vor. Mir erscheint es auch unheimlich: die Vorstellung, dass Funkwellen vorwärts und rückwärts durch die Zeit reisen … Aber es ist ein fundamentaler Bestandteil unsrer Wirklichkeit.
Wieso hat Zeit überhaupt eine Richtung? Wieso fühlt die Zukunft sich anders an als die Vergangenheit? Manche von uns glauben, das liegt daran, weil das Universum nicht symmetrisch ist.
Am einen Ende ist der Urknall, ein Punkt unendlicher Kompression. Und am anderen Ende sind die endlose Expansion und unendliche Ausdünnung. Sie könnten nicht verschiedener sein.
Wir sind fähig, die Struktur des Universums zu ermitteln, indem wir Beobachtungen anstellen und sie mit unsrer Begrifflichkeit ausdrücken. Welchen Unterschied macht das aber für ein Elektron? Woher ›weiß‹ es, dass die in der Zeit nach vorn gerichteten Funkwellen die ›richtigem‹ sind, die emittiert werden müssen?
Vielleicht liegt es an diesen in der Zeit rückwärts gerichteten Echos. Vielleicht vermag ein Elektron zu registrieren, wo es sich in der Zeit bewegt – und in welcher Richtung es sich befindet. Und daraus erklärt sich, wieso die in der Zeit nach vorn gerichteten Wellen die richtigen sind.
Das alles sind Analogien und Anthropomorphismen. Natürlich ›wissen‹ Elektronen überhaupt nichts. Ich könnte es auch formaler ausdrücken und sagen, dass die Wheeler-Feynman-Theorie eine Möglichkeit aufzeigt, wie die Grenzzustände des Universums eine Selektionswirkung auf retardierte Wellen ausüben. Aber dann wür-de ich Sie mit Wissenschaft erschlagen, und das wollen wir doch nicht, stimmt's?« Er lächelte und bleckte seine weißen Zähne. Sie wurde sich bewusst, dass er mit ihr spielte.
Malenfant und Ystebo unterhielten sich angeregt; sie waren schon angetrunken. Emma hatte den Eindruck, dass ihre kleinen, 98
bedeutungslosen Stimmen in den Himmel emporstiegen, an dem hoch oben die Sterne unbeeindruckt ihre Bahnen zogen.
Bill Tybee:
Dienstag.
Also, June. Ich hatte eine Unterredung mit Rektorin Bradfield.
Sie weigert sich noch immer, Tom wieder in die Schule aufzunehmen.
Wenigstens bin ich nun etwas schlauer.
Tom ist nicht der Einzige. Das einzige superintelligente Kind, meine ich. Man hat an der Schule noch drei weitere identifiziert, und bei ein paar anderen wird es vermutet. Daraus folgt, dass auf tausend ein paar von ihnen kommen, und das ist auch nicht so wild.
Es scheint sich dabei um ein landesweites Phänomen zu handeln. Vielleicht sogar um ein weltweites.
Aber es gibt eine Dunkelziffer. Normalerweise werden die Kinder erst dann identifiziert, wenn sie in die Schule kommen.
Die Rektorin sagt, sie würden den Unterricht stören. Wenn man einen von ihnen in der Klasse hat, langweilt er sich, wird ungeduldig und lenkt die anderen ab. Und wenn man ein paar hat, schlie-
ßen sie
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