Das Multiversum 3 Ursprung
sträubte sich, war aber durch Hunger geschwächt und ließ es geschehen, dass Emma es unter den Achselhöhlen fasste.
Sie hob das Kind mühelos hoch, obwohl der haarige Wonne-proppen doch schwerer war, als sie geglaubt hatte. »Es ist ein Mädchen; das steht schon einmal fest.« Das Kind hatte schwarzbraune Augen mit cremig weißen Rändern. Die Haut des Wesens war schwarz, und es hatte Falten auf der Stirn und im Gesicht, die ihm 602
einen besorgten Ausdruck verliehen. Der Mund stand offen und gewährte Einblick in einen kontrastfarbenen rosigen Rachen. Der Körper war dicht behaart, doch auf dem Kopf mit dem seltsamen Knochengrat wuchsen deutlich weniger Haare.
Emma drückte das Kind an die Brust. Der kleine Körper war erhitzt. Das traurige, kleine schwarze Gesicht verschwand in einer Falte von Emmas Overall, und Emma küsste das Kind auf den Kopf. Er roch nach Laub.
Dann klammerte das Kind sich mit Armen und Beinen an sie, verspannte sich und schiss in einem Schwall, der sich über Emmas Hosenbeine ergoss.
Julia formte die Hände zu Klauen. »Leoparden. Hyänen. Fressen Nu'knacker-Baby.«
»Richtig«, sagte Emma. »Ein schlaues Baby. Man kackt nur, wenn die Mutter einen in den Armen hält.«
Nemoto beobachtete sie. »Emma Stoney, Sie wollen das Kind doch hoffentlich nicht mitnehmen?«
So weit hatte Emma noch gar nicht gedacht. »Wieso denn nicht?«
»Weil Sie nicht wissen, wie man es versorgt.«
»Sie. Ich weiß nicht, wie man sie versorgt.«
»Sie wissen doch überhaupt nichts von der Ökologie dieser Wesen. Sie sind einfach nur sentimental.«
»Sie hat recht«, sagte Mane bekümmert. Der große Daimon überragte die Szenerie wie eine Frau, die über einem Mädchen mit einer Puppe stand. »Dieses Kind ist von seiner Art ausgestoßen worden. Es wird bald an Hunger, durch Räuber oder Krankheit sterben. Tod ist ein Naturgesetz für alle hominiden Spezies, Emma.
Bei den Nussknackern konkurrieren die Männer um den Zugang zu Gruppen aus Frauen und Kindern. Und wenn ein Mann einen anderen verdrängt, tötet er manchmal die Kinder des unterlegenen Gegners.«
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»In evolutionärer Hinsicht plausibel«, sagte Emma kühl. »Aber ich behalte sie trotzdem.«
Sie spürte eine starke Hand auf dem Rücken – sie gehörte Julia.
»Einsam«, sagte die Ham.
»Ja. Ja, ich bin einsam, Julia. Ich habe meinen Mann, meine Welt und mein Leben verloren. Trotz eurer Güte bin ich doch einsam.«
»Alle einsam«, sagte Julia leise.
Nemoto streifte nervös über die kleine Lichtung und achtete darauf, dass sie dem Kadaver nicht zu nah kam. »Wir sind wirklich die einsamen Hominiden. Auf der Erde sind seit der letzten Begegnung mit einer anderen hominiden Spezies fünfunddreißigtausend Jahre vergangen. Vielleicht war es unser kompromissloser Expan-sionsdrang, dem die Neandertaler zum Opfer gefallen sind; vielleicht war es auch unsre Schuld – aber aus welchem Grund auch immer, es war der letzte Kontakt. Und wenn wir in den Himmel schauen, sehen wir nichts als Leere. Eine leere Welt in einem leeren Universum. Kein Wunder, dass wir seit Beginn der Geschichtsschreibung Krieg gegen unsren Planeten geführt haben.
Die Erde hat uns verraten und zu Waisen gemacht – was hätten wir sonst tun sollen? Ja, wir sind einsam, jeder von uns. Einsam und ängstlich. Aber glauben Sie wirklich, durch die Adoption eines Australopithecinen-Kinds würde sich irgendetwas ändern …?«
Emma spürte, wie Mane ihr die schwere Hand sanft auf den Kopf legte. Es war ein schwacher Trost.
Sie näherten sich dem Zentrum.
Leute bewegten sich auf dem felsigen Boden. Es waren Daimonen, die in kleinen Gruppen umherwanderten, exotische Ausrüstungsgegenstände transportierten und gelegentlich auf diese unheimliche Art und Weise verschwanden und woanders wieder auftauchten.
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Emma glaubte zu sehen, dass hinter den Daimonen ein Licht aus dem Boden stieg, in dem Staub wirbelte. Sie schauderte.
Nemoto schwieg angespannt.
Sie erreichten die Mitte der Lichtung. Emma ging zaghaft weiter.
Da war ein Loch im Boden. Es durchmaß ein paar Meter und sah aus wie ein Brunnen. Ihr entsprang Licht, das wie ein umgekehrter Sonnenstrahl durch die staubige Luft stach.
Emma fror plötzlich.
Sie setzte sich mit dem Nussknacker-Kind ins Gras und holte ei-ne Milchflasche aus dem Rucksack. Sie öffnete die aus einem gelben kunststoffartigen Material bestehende Flasche und zog einen Nippel heraus. Dann hielt sie dem Kind die Flasche hin und stieß beruhigende
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