Das Mysterium der Zeit
geschrieben steht.«
Obgleich deine Bemerkung durchaus von Überlegung zeugte, |131| brachte deine jugendliche Naivität uns alle zum Lächeln (auch Barbello, der dir einen noch zärtlicheren Blick als sonst zuwarf) und weckte Guyetus wieder auf: »Weise Worte, mein Sohn! Wohlan denn, verehrte Kollegen, warum geht Ihr nicht hin und bekehrt diese Korsaren dort oben an Deck zum wahren Islam, statt hier unten Eure ohnehin bis ins Mark papistischen Religionsbrüder sowie meine Wenigkeit, den unverbesserlichen Skeptiker, unsinnigerweise über den Koran zu belehren? Macht Euch auf, geht. Und grüßt mir den Rais und den Heiligen Krieg!«, grinste er.
»Den Heiligen Krieg?«, fragtest du.
»Ja, den islamischen Heiligen Krieg. Der Koran sagt, dass er fortgesetzt werden muss, bis die ganze Menschheit zum Islam bekehrt ist«, erklärte Naudé.
»Und wie verträgt sich dieser Heilige Krieg mit den Lehren Jesu?«, fragte Barbello, während er seinem Reisesack ein Paar neuer Hosen entnahm und sie mit deiner Hilfe anzog, wie zuvor durch Malagigis geöffneten Mantel vor unseren Blicken geschützt.
»Er verträgt sich in Wahrheit sehr schlecht damit«, antwortete Naudé lächelnd. »Innere Widersprüche sind ein Merkmal vieler Religionen. Dort, wo sie menschenfreundlich und barmherzig erscheinen, haben sie meist einfach Inhalte der Predigten Jesu übernommen. Doch sobald es an ihre eigenen Inhalte geht, offenbaren sie sich in ihrer ganzen Grausamkeit. Ich gebe dir ein Beispiel …«
»Ich gebe es!«, mischte sich Schoppe ein, bevor Naudé wieder zu einem blasphemischen Beispiel greifen konnte, wie bei dem Zitat aus dem Talmud. »Sogar Luther, Zwingli und Calvin stimmen mit uns überein, was Maria betrifft: Sie ist wirklich Jungfrau, sie ist ein Vorbild christlichen Lebens und so weiter. So haben sie geschrieben, tatsächlich aber haben sie Mariengebete aus den Riten der Glaubenspraxis ausgeschlossen. Calvin verbietet, das Ave Maria oder den Rosenkranz zu beten, die Calvinisten haben erbittert gegen alle Statuen von Heiligen und der Jungfrau Maria gewütet. In den von ihnen beherrschten Gegenden wurden sämtliche Heiligtümer der Muttergottes zerstört.«
»Ja, das stimmt, im Chablais hatten die Katholiken vor der Reformation eine besondere Vorliebe für ihre beiden Marienheiligtümer«, pflichtete Hardouin bei, »die Kapellen Notre Dame d’Hermone und Notre Dame des Voirons. Wenige Jahre nach der Ankunft Luthers wurden diese heiligen Orte zerstört.«
|132| »Nun, mir scheint, diesen Barbaresken und den Protestanten hat man eher den Talmud als den Koran beigebracht«, lachte Barbello, der seine gute Laune wiedergewonnen hatte, senkte dann aber sofort die Stimme, bei dem Gedanken, was mit ihm geschehen würde, wenn die Piraten ihn hörten.
»Von wegen Talmud, von wegen Muselmanen, habt Ihr denn nicht gehört? Diese Kerle sprechen unsere Sprache, als wenn nichts dabei wäre. Ich sage Euch, das sind alles Italiener«, zischte Malagigi flüsternd, doch mit mühsam zurückgehaltener Erregung.
»Wie bitte? Italiener?« Die Worte deines Lehrers versetzten dich in Erstaunen.
In diesem Moment wurde das Getrappel der Korsaren über unseren Köpfen vernehmlicher. Wir hörten den dumpfen Aufprall weiterer Falltüren, die geöffnet und geschlossen wurden. Sie befanden sich an anderen Stellen auf Deck und führten in andere Teile des Kielraums. Bei jedem Öffnen einer Falltür hörte man die Korsaren aufschreien, jedes Mal lauter und aufgeregter. Man konnte auch das frenetische Hin und Her einiger Männer zwischen den beiden Schiffen unterscheiden, da ein paar der beim Kapern benutzten Stege direkt über unserem Teil des Kielraums lagen.
Just in diesem Augenblick hörte man einige Schläge auf die Falltür über uns, die an Deck führte, sodann Schritte, die rasch die Leiter herunterkamen. Ein Beben durchfuhr unsere ganze Gruppe.
DISKURS XVII
Darin das Schicksal die Oberhand über die Gewalttätigkeit der Barbaresken gewinnt, aber nicht ausreicht, um alle wieder in sichere Gewässer zu bringen, sondern die Lage außerordentlich verkompliziert.
»Großer Gott! Sie wollen uns unsere Sachen wegnehmen!«, sagte Malagigi.
Augenblicklich begriffen wir: Die Barbaresken hatten gewartet, bis wir unsere Habseligkeiten wieder an uns genommen hatten, um sie |133| uns dann in aller Ruhe abzunehmen, statt mühsam in den hintersten Winkeln des Schiffes danach zu suchen.
Alle griffen verzweifelt in ihre Taschen, Säckchen oder Hosen und
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