Das Mysterium der Zeit
beendet hatte, wagte einen schüchternen Vorstoß. »Tatsächlich hat die Jungfrau Maria für Mohammed die zweifache Aufgabe, ein
ayat
und ein
mashal
zu sein, das heißt, ein Zeichen der göttlichen Macht, wenn sie in die Dinge der Welt eingreift, und ein Beispiel für höchste Würde, mit der keine andere muselmanische Frau es aufnehmen kann, weil Maria die Mutter Jesu ist. Dieser ist sowohl ein
nabi
, also ein von der Weisheit Gottes und dem Wissen der Bücher erfüllter Prophet, als auch ein
rasul
, ein Gesandter Gottes mit charismatischen Gaben. Im Koran wird die Madonna auch
qanita
genannt, was Ergebene Allahs bedeutet, weil sie auf dem Boden liegend betet und fastet, beides Zeichen des vollkommenen Muselmanen. In der berühmten Sure fünf des Tisches liest man das vielleicht schönste Loblied des Korans auf die Madonna: ›Die Mutter Jesu war eine Heilige!‹«
»Ich meine verstanden zu haben, dass die Türken sagen, die Madonna sei in Wirklichkeit eine …«, deutete Malagigi unsicher an.
»Nein, das sind die Juden«, verbesserte ihn Naudé. »In ihrem Talmud haben sie die sogenannte Tradition des Padera oder Panthera. Ein römischer Offizier dieses Namens soll eine gewisse Myriam, die Verlobte Josefs, verführt und geschwängert haben, und die Frucht dieser Sünde war Jesus. In der Beziehung Jesus zu seiner Mutter, die er niemals Mutter nennt, sondern nur ›Frau‹, und der er manchmal distanziert begegnet, soll sich nach dem Text des Talmud das schmerzhafte Wissen um seine uneheliche Herkunft spiegeln. Nach dem Talmud ehrt Jesus seine Mutter nicht und verleugnet seinen leiblichen Vater, und das wird als ein Zeichen aufgefasst, dass er wusste, dass er das uneheliche Kind eines Fremden war.«
»Interessant, davon habe ich noch nie gehört«, rief Barbello erstaunt aus, der unterdessen auf seinem Lager zu Kräften zu kommen schien.
»Monsire Naudé, ich bitte Euch …«, sagte ich, auf die jungen Menschen weisend.
|128| »Himmel Herrgott, der Signor Secretarius hat recht, was fällt Euch ein, derart blasphemische Reden zu führen?«, tadelte ihn Schoppe erbost. »Ist das in Frankreich so üblich?«
»Ich bitte um Vergebung, aber ich habe nur wiedergegeben, was im Talmud steht«, versuchte Naudé sich zu rechtfertigen. Er war aufrichtig erschrocken, und vielleicht hatte Schoppe recht: in Frankreich störte sich niemand an solchen Reden.
»Schon knapp zwei Jahrhunderte nach der Geburt unseres Herrn berichtete Celsus von diesen Gerüchten, die in den jüdischen Gemeinden der Diaspora kursierten«, fuhr Naudé fort. »Tertullian bestätigt ebenfalls, dass es diese Verleumdungen gab, und erschwerend kam hinzu, dass Maria in diesen Geschichten nicht nur eine Ehebrecherin genannt wurde, sondern ohne Umschweife eine …
quaestuaria «
, schloss er, ohne den lateinischen Begriff zu übersetzen, nachdem er einen unsicheren Blick auf Schoppes finstere Miene und auf euch junge Leute geworfen hatte.
»Also hat der Koran recht, wenn er in der vierten Sure sagt, die Juden seien von Gott wegen ihrer Ungläubigkeit bestraft worden und weil sie Maria mit einer ungeheuerlichen Unterstellung verleumdet haben«, kommentierte Schoppe kopfschüttelnd.
»Mir kommt es jedenfalls so vor, als wüsste die Madonna genau, auf welcher Seite sie steht«, lachte Barbello. »Wir in Venedig vertragen uns nicht besonders gut mit Rom, weil wir für die Freiheit des Handels und der Ideen sind, auch der religiösen Ideen, aber wir vergessen gewiss nicht, dass Papst Pius V. vor fünfundsiebzig Jahren, als in Lepanto gegen die türkischen Hunde gekämpft werden musste, der ganzen Christenheit das Rosenkranzgebet gebot und die bevorstehende Schlacht der seligen Jungfrau weihte. Franzosen, Engländer und Deutsche waren bereits geflohen, nur Spanier und Italiener waren noch auf See, und die türkische Flotte hatte eine so große Übermacht an Schiffen und Männern, das wir in Venedig auf den Untergang gefasst waren und die osmanischen Hunde bereits in die Lagune einziehen sahen. Aber die Christen gewannen. Auf einem der spanischen Schiffe war auch jener berühmte Dichter, Cervantes, der tapfer gekämpft und eine Hand verloren hatte, und er sagte, der Sieg sei ein wahres Wunder gewesen. Die Madonna hat uns gerettet.«
»Jugendlicher Überschwang«, bemerkte Guyetus mit einem überheblichen Lächeln.
|129| Unbeirrt fuhr Barbello fort:
»Seither ist der 7. Oktober, der Tag der Schlacht bei Lepanto, das Fest der Madonna des Rosenkranzes oder der
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