Das Mysterium der Zeit
Heiligen Maria des Sieges, denn so hat Papst Pius V. es zum ewigen Andenken an dieses große Wunder festgelegt. Der venezianische Senat ließ an die Wand seines Versammlungssaals schreiben:
Non virtus, non arma, non duces, sed Maria Rosarii victores nos fecit
, was bedeutet: Nicht die Tapferkeit, nicht die Waffen, nicht die Befehle, sondern die Madonna des Rosenkranzes hat unseren Sieg bewirkt.«
»Welch große Gelehrsamkeit«, spottete Guyetus mit einem säuerlichen Unterton, »offenbar kann der Junge nicht nur singen, sondern auch lesen.«
Barbello, der ihn durchaus gehört hatte, zeigte es nicht. Ein perfekter Schüler in der Schule der Täuschung, dachte ich, die mein junger Atto so nötig brauchte.
»Aber warum nannte Jesus seine Mutter nur ›Frau‹?«, fragtest du, an Naudés Worte zurückdenkend.
»Bei den orientalischen Völkern steht die Treue zur Familie und Gemeinschaft an allererster Stelle, während Christus uns gelehrt hat, dass nichts wichtiger ist, als Gutes zu tun«, antwortete Hardouin in einem weniger schüchternen Tonfall als zuvor. »Um das Misstrauen gegenüber dem, was anders ist, zu geißeln, bietet Jesus selbst sich als Vorbild an, indem er die eigene Mutter seiner Mission hintanstellt. Als der Heranwachsende eines Tages verschwindet und sie ihn mit Josef nach langer Suche im Tempel findet, wo er mit den Lehrern spricht, tadeln die Eltern ihn für sein Verschwinden. Er aber erwidert, dass die Dinge Gottes Vorrang vor denen der Familie haben. Er tut also nichts anderes, als sein eigenes Gebot in die Tat umzusetzen: Wer Vater und Mutter mehr liebt als Gott, ist Gottes nicht würdig. Jesus sagt es ganz deutlich: Ich bin gekommen, das Schwert zu bringen, nicht den Frieden, ich werde Familien entzweien.«
»Amen«, glossierte Guyetus zu Schoppe und Hardouin gewandt. »Seid Ihr zufrieden mit Eurem frommen Schwätzchen? Jetzt seid Ihr beide bereit, Euch furchtlos von den Barbaresken den Kopf abhauen zu lassen – Ihr kommt ja ins Paradies, und der heilige Petrus persönlich wird Euch den Kopf wieder aufsetzen, mit blonden Löckchen und einem Heiligenschein aus massivem Gold.«
»Meiner Meinung nach«, warf Malagigi bescheiden ein, womit er |130| Guyetus’ ironische Bemerkungen wirkungslos verpuffen ließ, »hätte Jesus, wenn er sich seiner Mutter wirklich geschämt hätte, sie nicht auf die Hochzeit zu Kanaan und auf all seine Wanderungen von Galiläa bis Judäa mitgenommen. Die Jungfrau wurde niemals in den Hintergrund verbannt, sie stand auf Golgatha am Fuß des Kreuzes, sie hat den Leib ihres toten Sohnes in den Armen gehalten, und sie ist die einzige Frau, die am Pfingsttag mit den Aposteln zusammen war. Der Heilige Geist ist auch auf sie herabgekommen.«
»Habt Ihr das auf einem Fresko in der Sixtinischen Kapelle gesehen?«, stichelte Guyetus, womit er auf Malagigis Lebensumstände als Kastrat anspielte.
»Ihr solltet lieber nicht immer den Spötter abgeben, denn in der Sixtinischen Kapelle ist das Jüngste Gericht dargestellt, nicht das Evangelium. Ignorant«, schlug Schoppe zurück, indem er bewusst überging, dass Guyetus’ Bemerkung nur als alberner Witz gemeint war.
»Fast tut es mir schon leid, dass ich ihm das Leben gerettet habe«, schnaubte Guyetus, müde die Augen schließend.
»Hat Mohammed diese Dinge wirklich gepredigt?«, fragtest du.
»Frag das diesen Betrüger Scaliger, Gott hab ihn selig«, antwortete Schoppe, »der Mohammed in seiner Universalen Chronologie auf das siebte Jahrhundert nach Christus datiert, obwohl es in Wahrheit nicht den kleinsten Beweis dafür gibt, dass der Prophet des Islam je existiert hat«, setzte er verschwörerisch mit leiser Stimme hinzu.
Ich stellte fest, dass Naudé und Guyetus die Wahrheit gesagt hatten, als sie uns in der Offizierskabine der französischen Galeere berichtet hatten, dass Schoppe ein Feind des gelehrten Scaliger war. Jetzt zog er sogar die Existenz Mohammeds in Zweifel, so wie er nach den Aussagen der beiden Franzosen auch an der Ehrlichkeit des großen Galileo gezweifelt hatte.
»Wie auch immer«, wandtest du dich jetzt an Schoppe und Hardouin, »könntet Ihr nicht Ali Rais um eine Unterredung bitten und ihm wiederholen, was Ihr soeben gesagt habt? Vielleicht besitzt der Korsar ein Exemplar des Koran, dann könntet ihr Ihm die von Euch zitierten Stellen direkt zeigen. Vielleicht wüten die Barbaresken so grausam gegen die Kirche und die Christen, weil sie nicht alles kennen, was in ihrer heiligen Schrift
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