Das Nebelhaus
Übereinkommen«, unterbrach er mich. »Herr Nan und ich hatten niemals direkten Kontakt. Bei der Beerdigung von Clarissa und Philipp haben wir uns ein letztes Mal gesehen und uns nur über die Augen verständigt. Er wusste von mir, ich wusste von ihm. Uns war klar: In dem Moment, wo einer von uns die Vereinbarung brach, würde er auch sich selbst zerstören.«
»Ich bin hinter Herrn Nans Geheimnis gekommen.«
»Der Schuppen, oder? Er wollte ihn weder abreißen noch den Inhalt verbrennen, die Bilder … Ich bin einige Wochen nach dem September 2010 nach Hiddensee gefahren, in der Absicht, ein Feuer in dem Schuppen zu legen. Mir war immer klar, sobald Viseth Nans Geheimnis gelüftet würde, wäre auch ich dran. Es regnete vier Tage lang ununterbrochen, ich musste also warten. Dann kam die Sonne heraus. Als ich endlich ans Werk gehen konnte, passierte etwas Merkwürdiges. Ich wollte plötzlich nicht mehr. Ich bin unverrichteter Dinge abgereist. Interessiert es Sie, warum ich mich nicht mehr schützen wollte?«
»Sehr sogar.«
Er bestellte einen weiteren Kaffee. Seine Morde im Stile einer Caféhaus-Plauderei zu diskutieren kam mir absurd vor, zumal Timo Stadtmüller noch immer keine Anzeichen von Unruhe oder Aggression zeigte.
»Dazu muss ich ein wenig ausholen, das stört Sie doch nicht?«
»Kein bisschen.« Ich sah auf die Uhr. »Ich habe allerdings nur noch fünf Minuten, genauso wie Sie.«
»Ich kann mir vorstellen, was in fünf Minuten passieren wird.« Er nahm den Kaffee dankbar von der Kellnerin entgegen und trank einen Schluck. Dann fing er an zu erzählen. »Der Schuss auf Leonie war ein Versehen, aber er hat die unterschiedlichsten Gefühle in mir freigesetzt: Aggressionen, die Wut über frühere Niederlagen und eine seltsame, schwer zu beschreibende Lust. Ich nenne diese Mixtur der Einfachheit halber meine Gülle. Das Dreckszeug staute sich auf, schwappte in mir. Nur so ist zu erklären, dass ich nach dem Schuss auf Philipp auch noch fähig war, Clarissa und die alte Frau Nan zu erschießen. Man glaubt zu wissen, wer man ist, wozu man fähig ist und wozu nicht, aber ich sage Ihnen, man täuscht sich fast immer. Das war ein Schock. Anschließend kamen noch die Zwillinge unter den Dämonen hinzu, die Angst vor Entdeckung und die Angst vor mir selbst, vor den Alpträumen. Als es hieß, dass Leonie noch lebte, durchfuhr mich ein derart intensives Gefühl, das ich nur als heftigen Schmerz bezeichnen kann. Es war, als hätte ich einen Schlag in die Magengrube erhalten, und zwar von Gott selbst.
Nur eine Nachricht hätte mich noch stärker treffen können: dass Philipp lebte. Doch er war tot, mausetot. Damit war Vev frei. Ich hatte sie befreit. Sie hätte nicht die Kraft gehabt, ihn zu verlassen und ihrer Tochter die Familie zu nehmen. Sie, Philipp, ich – jeder von uns wäre unglücklich geworden, die einen in ihrer lieblosen Zweisamkeit und ich mit meiner langsam verhungernden Liebe. Also habe ich dem Glück ein bisschen nachgeholfen. Nicht zuvorderst für Vev, das will ich zugeben, sondern für mich. Ich nährte meine Liebe zu ihr mit einem Verbrechen, für das ich mich zwar spontan entschieden hatte, das jedoch mit ganzem Herzen begangen worden war. Ich spreche nicht von Clarissa und Frau Nan, nur von Philipp. Nach seinem Tod hatte ich eine Chance, eine teuflisch gute Chance, Vev in mein Leben zu holen. Natürlich litt sie unsägliche Qualen wegen Clarissas Tod, aber ich tröstete sie, so gut ich konnte, während ich schreckliche Ängste wegen Leonie ausstand.
Leonie klammerte sich an ihre Existenz: Koma. Im Leben hatte sie keinen Halt mehr gefunden, und im Tod, so schien es, fand sie ebenfalls keinen. Vielleicht hatte sie sich nur umbringen wollen, damit ich ihr dabei zusehe. Um mich zu strafen. Sie hatte mir den ersten Schreck mit vorgehaltener Waffe verpasst, der zweite sollte ihr Freitod sein. Was sie nicht geahnt hatte: Den größten Schreck jagte sie mir nicht durch ihren Tod, sondern durch ihr Fortdauern ein, ihren Nicht-Tod. Was, wenn sie wie durch ein Wunder erwachte? Was, wenn sie zu sprechen anfing? Mein künftiges Leben war auf dem dünnen Atem dieser Frau aufgebaut. Sie quälte mich in doppelter Hinsicht. Zum einen konnte sie mit einem einzigen Satz alles zunichtemachen, wovon ich träumte. Zum anderen, und das war noch schlimmer, war sie es, die die Gülle in mir auf hohem Pegel hielt.
Schlechte Gedanken beherrschten mich, wo ich doch am liebsten nur an das Schöne und Gute gedacht
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