1731 - Der Zwitter
Die Gewitter tobten sich am Himmel und auch am Erdboden aus. Der Wind war zu einem regelrechten Monster geworden, das die Meere zum Kochen brachte und Schiffe wie Spielzeuge aussehen ließ.
Der Tag war zur Nacht geworden. Manchmal aber rissen die Wolkenbänke auf. Dann waren hellere Streifen zu sehen, gefüllt mit einem gelblichen Licht, das einen fahlen Glanz hatte.
Viele Menschen fürchteten sich vor dem Gewitter, hatten sich zurückgezogen und beteten dafür, dass sich die Natur wieder beruhigen sollte. Es gab auch die andere Seite. Diejenigen, die sich fasziniert von diesem Schauspiel zeigten. Menschen, die genau beobachteten, was die Natur ihnen bot.
Dazu gehörte Carlotta, das Vogelmädchen. Sie hatte schon manches Gewitter erlebt, aber nicht so ein Unwetter, und jetzt stand sie vor dem großen Wohnzimmerfenster und schaute hinaus.
Es war eigentlich nicht viel zu sehen, denn der Regen rauschte zu dicht aus den Wolken. Und doch hatten die Blitze eine so gewaltige Kraft, dass sie immer wieder für helle Inseln sorgten und der stillen Beobachterin stets neue Szenen präsentierte. Die Natur war für sie zu einer Bühne geworden, die sich mal offen zeigte und dann wieder verschwand, als hätte jemand den großen Vorhang vorgezogen.
Carlotta stand allein im Zimmer. Ihre Ziehmutter, Maxine Wells, hatte noch in ihrer Praxis zu tun. Der späte Nachmittag und der Abend waren verplant, denn sie musste sich um Abrechnungen kümmern.
So konnte Carlotta die Faszination des Schauspiels allein genießen. Immer wieder huschte ein Lächeln über ihre Lippen, wenn die Natur ihr eine neue Szenerie bot. Mal lag die Finsternis über der grauen Rasenfläche, dann wieder wurde das Geschehen in ein fahles Licht getaucht, sodass sie den Garten in den verschiedensten Verzerrungen sah.
Carlotta hatte nicht auf die Uhr geschaut. Deshalb wusste sie nicht, wie lange das Unwetter schon tobte. Weiterhin peitschte der Donner auf, rasten die grellen Speere über den Himmel, als wären sie auf der Suche nach besonderen Zielen. Kein Mensch konnte diesen Gewalten Einhalt gebieten. Hier waren Urkräfte am Werk, die auch von der modernsten Technik nicht gezähmt werden konnten.
Und es schüttete weiter. Der Garten hinter dem Haus war dabei, sich in einen See zu verwandeln. Carlotta wusste, dass es in der Stadt Probleme geben würde. Da würden die Keller volllaufen und manche Straße überschwemmt werden, wenn sie in tieferen Gebieten lag.
Wer bei diesem Wetter nach draußen musste, war arm dran, wenn er keinen Unterstand fand, aber daran dachte Carlotta nicht. Sie genoss das Schauspiel, das kein Ende zu haben schien. Irgendwann würde es aber vorbei sein. Im Moment schien es sich über Dundee festgesetzt zu haben, und das Vogelmädchen spürte den Wunsch in sich, das Haus zu verlassen und Kreise über dem Meer zu fliegen, weil es dort besonders schaurig aussah.
Das hätte sie trotzdem nicht getan. Bei diesem Regen zu fliegen war unmöglich. Das Wasser hätte die Flügel zu schweren Bleiklötzen werden lassen, die sie dann zu Boden gedrückt hätten.
So schaute sie auch weiterhin zu, wie die Naturgewalten die Welt veränderten und für eine reine Luft sorgten, denn es war in den letzten Tagen schon schwül gewesen. Eigentlich ein seltenes Phänomen hier im Norden. Vor allen Dingen in der Frühsommerzeit, aber das Wetter hatte sich sowieso schon verändert. Wärme im April, Schwüle und auch Abkühlung im Juni und jetzt das mächtige Unwetter.
Erneut wehte eine mächtige Bö über den Himmel, erfasste die Wassermassen und trieb sie zur Seite, als wollte sie so eine Lücke schaffen.
Tatsächlich traf so etwas Ähnliches ein. Es entstand ein Loch, in das ein greller Blitz fuhr und es aussehen ließ wie einen hellen Fleck.
Eine kleine Insel, in der…
Carlottas Gedanken brachen ab. Sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht strömte. Plötzlich fing sie an zu zittern. Ohne es zu wollen, ballten sich ihre Hände zu Fäusten, denn was sie da auf dem Grundstück sah, das war nicht möglich.
Der Rasen, dessen Oberfläche wie ein See schimmerte, war nicht mehr leer.
Auf ihm hockte ein Mensch!
***
Carlotta sah ihn, und sie war in diesen Augenblicken in ihren Bewegungen erstarrt. Sie schaute angestrengt durch die Scheibe, über die das Wasser in schmalen Bächen rann, auf den Rasen und glaubte an eine Täuschung.
Das war sie nicht.
Sie sah nach wie vor diese Gestalt, die tropfnass war und auf dem nassen Rasen kniete. Es war eine
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