Das Nebelhaus
nicht, vielleicht hat sie etwas mitbekommen. Sie antwortet einfach nicht. Kannst du – natürlich nur, wenn es nicht zu viel verlangt ist – dich um sie kümmern?«
Yim nickte gedankenverloren. Er sah aus, als könnte er in der nächsten Sekunde zusammenklappen, und nachdem er die ersten Stufen der Wendeltreppe hinaufgegangen war, hörte Timo seinen Aufschrei. Doch Timo kümmerte sich nicht darum.
Sein Gang war schwer, der schwerste des Abends. Timo fand Vev in der Küche, wo sie auf einem kleinen Gasbrenner einen Tee zubereitete. Drei Kerzen spendeten ihr Licht.
»Oh, du bist es. Du hast mich ein bisschen erschreckt. Für einen Moment dachte ich, es käme ein böser Geist herein. Dabei ist es nur Timo, der Jäger der Inspiration. Die ganze Zeit schlagen hier im Haus die Türen, dass man das Fürchten bekommt. Wenn bloß der Strom wieder da wäre. Hast du gesehen, Frau Nan ist aufgewacht. Sie hat nach einem grünen Tee gefragt. Typisch. Ich wette, wenn sie eines fernen Tages an die Himmelspforte klopft, verlangt sie als Erstes einen grünen Tee. Sie wird wieder gesund, da bin ich mir sicher. Wer stirbt schon auf Hiddensee? Keiner. Man stirbt hier einfach nicht, unmöglich. Schon gar nicht an einem herabstürzenden Ast. Bei den paar Bäumen auf der Insel hier. Das wäre ja so, wie in der Wüste zu ertrinken. Was ist denn? Warum siehst du mich so an?«
33
Um halb zehn am Morgen nach dem Gespräch mit Herrn Nan betrat ich ein Café im Prenzlauer Berg, das als ein bisschen multikulturell, ein bisschen schick, ein bisschen alternativ galt und als Szenelokal geadelt worden war. Die meisten Leute saßen im Freien, zu zweit oder dritt vor riesigen Frühstückstellern, die von Leckereien überquollen. Drinnen duftete es nach Kaffee.
Timo Stadtmüller entdeckte ich am kleinsten Tisch, allein, wo er ein mehrere hundert Seiten starkes Manuskript durchblätterte. Gelegentlich korrigierte er ein Wort. Ich beobachtete ihn ein paar Minuten lang und konnte nichts Unsympathisches an ihm finden. Das geht mir mit vielen Mördern so, denen ich begegnete, was einmal mehr die weit verbreitete Theorie vom Monster widerlegt. Ein Kapitalverbrecher kann gute Manieren haben, er kann ein Kumpel sein oder lustig und für jeden ein gutes Wort haben. Timo Stadtmüller war so ein Mensch. Die Kellnerin kam gerne an seinen Tisch, er wechselte dann immer ein paar Worte mit ihr, und wenn sie wegging, hatte sie ein Lächeln auf den Lippen.
Ich glaube, er legte es darauf an, dass die Leute ihn mochten, und sonnte sich in deren Meinung, es mit einem feinen Kerl zu tun zu haben. Er war nett zu den Menschen, nicht um ihnen Gutes zu tun, sondern sich selbst. War er darin so anders als wir Normalen? Das Böse an sich ist nicht humorvoll, höflich und hilfsbereit, aber es kann mit guten Eigenschaften koexistieren. Es schirmt sich nicht ab, im Gegenteil, es gesellt sich gerne dazu. Manchmal verschmilzt es sogar mit einem sympathischen Charakterzug. Das macht seinen Erfolg aus.
Nachdem die Kellnerin mir den bestellten Tee gebracht hatte, zog ich von meinem an Timo Stadtmüllers Tisch um. Ohne zu fragen, setzte ich mich.
»Doro Kagel, Journalistin. Ich bin eine Freundin von Yim. Er hat bei Ihnen zu Hause angerufen, und man hat ihm gesagt, dass ich Sie hier finde. Es ist Ihr Stammlokal, Sie schreiben hier oft, nicht wahr?«
»Ja …« Er war noch ein bisschen verdattert von meinem Überfall.
»Yim hat nicht schlecht gestaunt, als Vev Nachtmann das Telefon abgenommen hat. Mir ist es genauso ergangen. Aber damit war ein weiteres Puzzleteil gefunden – das Motiv. Ich habe mir die halbe Nacht den Kopf darüber zerbrochen, wieso Sie das getan haben.«
»Ich weiß gerade nicht …«
»Ach so, ich habe ja völlig vergessen zu erwähnen, dass Yim und ich letzte Nacht ein sehr aufschlussreiches Gespräch mit Herrn Nan geführt haben.«
Auf einmal fiel der Groschen bei ihm. Allerdings hatte ich mir seine Reaktion anders vorgestellt. Er blieb völlig gelassen, keine Spur von Unruhe, so als hätte ich herausgefunden, dass er vor zwei Jahren bei Rot über die Ampel gefahren war. Auch als ich ihn detailliert mit Herrn Nans Beobachtungen und meinen Schlussfolgerungen konfrontierte, blieb er seltsam entspannt. Er nippte an seinem Kaffee, spielte ein wenig mit seinem Stift, lehnte sich zurück. Ich meinte sogar, ein feines Lächeln auf seinen Lippen zu entdecken.
»Falls Sie vorhaben sollten, die Sache zu leugnen …«
»Es war ein stillschweigendes
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