Das Nebelhaus
ihn zeigte schräg nach unten, und die ganze Gülle, die diese Erkenntnis mit sich brachte, stieg ätzend in ihm auf.
Leonie sprach nicht, zitterte nicht. Von einer Mörderin hätte er erwartet, dass sie aufgeregt war. Ihr Gesicht machte den Eindruck, als wolle es sagen: So, das hast du jetzt davon.
Er stand ungefähr drei Meter von ihr entfernt und roch ihren Schweiß. Sollte er versuchen, sie zu beschwichtigen? Sollte er schreien? Wenn er schrie, dann was? Hilfe, Mörderin? Hilfe?
Timo und Leonie standen etwa zwanzig Sekunden lang schweigend und bewegungslos in dem Zimmer, sie mit dem Rücken zur Tür, er mit dem Rücken zum Bett. Dann bewegte Leonie die Pistole am ausgestreckten Arm abrupt nach unten.
Wieso? Das fragte er sich nicht. Schlagartig erkannte er die Gelegenheit, sich zu retten. Nur das: sich zu retten, indem er ihr die Waffe entwand.
Es ging alles sehr schnell. Er rannte auf Leonie zu. Drei Meter waren nicht viel, aber er benötigte aus dem Stand heraus etwas mehr als eine Sekunde, vielleicht anderthalb Sekunden, um die Strecke zurückzulegen. Gerade als er sich in Bewegung gesetzt hatte, sah er, wie Leonie die Waffe an ihre Schläfe setzte. Hätte sie das eine Sekunde vorher getan – er hätte nichts unternommen. Gar nichts. Er hätte zugesehen. Er wäre, noch ganz erfüllt von seiner Charaktergülle, vermutlich erleichtert gewesen, dass sie sich selbst und nicht ihn umbringen wollte. Ihr gesprengtes Hirn auf seinem T-Shirt wäre ihm wie ein Geschenk vorgekommen im Vergleich zu den trüben Aussichten im Hinblick auf seine Lebensdauer, die er noch kurz vorher gehabt hatte.
Doch es war zu spät. Er war praktisch schon bei ihr, als er begriff, dass sie es auf sich selbst abgesehen hatte und er lediglich als Zuschauer fungieren sollte. Er konnte nicht mehr anhalten und fiel ihr in den Arm.
Sie war stärker, als er dachte. Der Kampf war stumm und absurd. Er rang mit Leonie um ihr Leben, dabei wollte sie sterben, und ihm war es gleichgültig, ob sie starb. Aber er hatte Angst, dass sie nun, da er sich gegen sie gestellt hatte, doch zuerst ihn und erst dann sich selbst umbringen würde, für den Fall, dass er zurückwich. Aus diesem Grund gab er nicht nach.
Die Pistole prallte gegen Leonies rechten Mundwinkel, doch sie kämpfte weiter. Ein paar Sekunden später fiel der erste Schuss. Die Kugel bohrte sich von unten durch Leonies Kehle und Mund, ohne durch den Schädel auszutreten. Sie sackte an der Wand zu Boden, und Timo fand sich mit der Pistole in der linken Hand wieder.
Von dem Moment an hatte er das Gefühl, als würde alles noch viel, viel schneller weitergehen als zuvor.
Da war die Pistole. Da war Blut. Da war seine Euphorie zu leben. Zu leben! Da war Adrenalin. Da war Macht im Spiel, Lust, Potenz. Da war Liebe, seine Liebe zu Vev. Da war die Gülle von vorhin, die nur langsam abfloss, zu langsam … Da war die Schubumkehr. Irgendwohin musste die Kraft umgeleitet werden. Und da war die Angst, für immer ein Verlierer zu bleiben. Die Pistole sog die Angst auf, neutralisierte sie. Die Pistole konnte sein Leben zum Besseren wenden.
Er öffnete die Tür und schlüpfte in den Flur. Seit dem Schuss war kaum Zeit vergangen. Hatte überhaupt jemand etwas gehört? Der Sturm tobte, lärmte noch immer. Timo eilte die wenigen Meter über den Flur und öffnete die Tür zum Schlafzimmer von Philipp und Vev.
Philipp hatte einen Pyjama an, trug eine Lesebrille und war gerade dabei, das Zimmer zu verlassen.
»Timo«, sagte er. »Ich habe gerade ein lautes Geräusch gehört. Ist etwas passiert?«
Timo hob die Pistole in der gleichen Weise, wie Leonie es bei ihm gemacht hatte – und drückte ab.
Die Kugel traf Philipp in die Stirn, präzise zwischen die Augen. Er fiel rücklings zu Boden.
Es war eine Inspiration gewesen, etwas, das seinen Ursprung vielleicht am selben Ort hatte, an dem auch die Ideen des Künstlers entstanden, ein Zusammenprall von menschlichem Wunsch und göttlicher Gelegenheit. Das Paradies tat sich vor Timo auf. Zuallererst ein Leben mit Vev – er sah sich, wie er sie liebte, wieder und wieder in sie eindrang, in einer Berliner Dachgeschosswohnung, unter kretischer Sonne, an Ostseestränden … Sie würde zu ihm gehören. Zum ersten Mal hatte er sich etwas Bleibendes erobert, eine Liebe. Und ein Kind gleich noch dazu. Mit der Zeit würde Clarissa zu seinem Mädchen werden, zu seiner Stupsi. Einmal im Jahr, an Philipps Todestag, würden sie zu dritt zum Friedhof fahren. Timo würde
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