Das Nebelhaus
taktvoll am Eingang zurückbleiben.
Das wäre der einzige, winzige Triumph, der Philipp bleiben würde. Philipp hätte Vev und Clarissa für fünf Minuten im Jahr, Timo für dreihundertfünfundsechzig Tage dreiundzwanzig Stunden und fünfundfünfzig Minuten. Oder, anders gerechnet, fünfhundertdreitausendsiebenhundertfünfundfünfzig Minuten. Timo war von nun an ein halber Minutenmillionär. Philipp dagegen war pleite. Dead Man.
Ja, und dann noch das Geld, Philipps hübsches Architektenvermögen. Timo sah sich am Wendepunkt seines Lebens.
Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte er eine Bewegung im Zimmer. Jetzt erst sah er, dass Clarissa in der Mitte des Bettes lag; er hatte sie in ihrem Zimmer vermutet. Sie starrte ihn an, starrte, starrte …
Er atmete tief ein und sagte: »Clarissa.« Mehr brachte er nicht heraus. Sie sprang aus dem Bett und lief an ihm vorbei, ehe er sie aufhalten konnte. Er rannte hinter ihr her. Mit gedämpfter Lautstärke rief er: »Clarissa, bleib stehen. Bitte bleib stehen. Komm zu mir. Ich tue dir nichts.«
Sie hörte nicht auf ihn, hatte bereits den Flur durchquert und die Wendeltreppe erreicht.
Wenn sie redete, wäre alles verloren.
Er wollte ihr nichts tun.
Timo schoss.
Die Kugel sprengte Clarissas Kopf, Hirnmasse spritzte gegen die Säule, der Körper purzelte einige Stufen hinunter und blieb mitten auf der Treppe in verrenkter Pose liegen.
Timo fasste sich an die Stirn, dann legte er die Hand auf den Mund. Er zitterte wie ein Parkinsonkranker. Schweiß troff ihm über die Nase auf die Lippen, er leckte ihn ab, schmeckte seine Erregung. Sein Atem ging schwer.
Als er Schritte hörte, riss er sich zusammen, hielt die Luft an und schloss die Augen. Bitte, lieber Gott, lass es nicht Vev sein. Er öffnete die Augen wieder.
Frau Nan stand mehrere Stufen unter ihm auf der Wendeltreppe. Zwischen ihm und ihr lag Clarissas Leiche, an der ihr entsetzter Blick entlangglitt, der zunächst auf der Pistole und schließlich auf ihm haften blieb. Sie schlug beide Hände vor den Mund und presste zugleich einen seltsamen, hohen Stoßseufzer hervor. Dann machte sie kehrt und rannte die Treppe hinunter. Timo sprang über die Leiche des Kindes und holte Frau Nan ein, als sie gerade die Haustür aufgezerrt und einen Schritt in den Sturm gemacht hatte. In dem Moment, als er abdrückte, drehte sie sich zu ihm um. Die Kugel drang in den Unterleib ein, Frau Nan sank auf die Knie. Das Letzte, was sie sah, bevor sie tot zusammenbrach, waren die Augen ihres Mörders.
Binnen drei Minuten und dreißig Sekunden hatte Timo vier Menschen niedergeschossen, einen aus Versehen, einen mit voller Absicht und zwei weitere, weil es nicht anders ging.
Das Magazin war leer. Wer weiß, was er mit einer fünften Kugel getan hätte? Vielleicht wäre er Frau Nan, Clarissa, Philipp und Leonie gefolgt. Vielleicht hätte er einen Fünften erschossen, jenen Mann nämlich, der nicht weit vom Haus entfernt klatschnass im Regen stand und den Tod seiner Frau beobachtet hatte.
Die beiden Mörder wechselten einen Blick, bevor jeder von ihnen in seine eigene Dunkelheit eintauchte. Herr Nan wurde von der Nacht verschluckt, Timo kehrte ins Haus zurück.
Geduckt und leise huschte er die Treppe hinauf. In seinem Zimmer entfernte er rasch seine Fingerabdrücke von der Waffe, um anschließend jene von Leonie reichlich darauf zu platzieren.
Nun brauchte er nur noch jemanden, dem er entsetzt berichten konnte, dass Leonie in sein Zimmer eingedrungen war und sich vor seinen Augen erschossen hatte.
Aus dem Badezimmer drangen laute Musik und das Rauschen der Dusche – vermutlich Yasmin.
»Yasmin? Um Himmels willen, Yasmin, mach die Tür auf. Es ist etwas Schreckliches passiert.«
Die Tür war verschlossen, alles Rütteln und Schreien änderte daran nichts. Also lief er ins Erdgeschoss, um Vev zu suchen, traf jedoch auf Yim. Der stand kreidebleich und benommen in der Diele, wo seine leblose Mutter lag.
Timo gab sich bestürzt. »Oh Gott, ist sie … ist sie tot?«, fragte er.
Yim nickte gedankenverloren.
Timo stammelte: »Sie ist nicht die Einzige. Auf der Treppe … Clarissa … und oben Philipp. Leonie. Sie hat … sie hat …« Er fand, er machte seine Sache gut. »Yim, kannst du den Notruf anwählen? Oder vielleicht kennst du jemanden in Neuendorf, der ein Funkgerät hat. Ich … ich muss jetzt zu Vev und ihr … und ihr … Kommst du zurecht? Übrigens, Yasmin hat sich im Bad eingeschlossen. Sie duscht oder … ich weiß auch
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