Das neue Buch Genesis
Sie gaben vor, die Demokratie zu verteidigen, doch ihre Definition war engstirnig und auf ihr System zugeschnitten, sodass sie sich schlecht übertragen ließ.
So nahm der Fundamentalismus auf beiden Seiten dieser Kluft zu, und als es im Jahr 2032 in Saudi-Arabien die ersten unmissverständlichen Anzeichen für westlichen Terrorismus gab, war dies in den Augen vieler der zündende Funke für ein Feuer, das nicht mehr gelöscht werden konnte. Europ a wurde vorgeworfen, es habe seinen moralischen Kompass verloren, und die Unabhängigkeitskrawalle von 2047 galten als weiterer Beweis des säkularen Niedergangs. Die wachsende internationale Bedeutung Chinas und seine sogenannte »aktive Diplomatie« weckte bei vielen die Angst vor einem weiteren globalen Konflikt. Die wirtschaftliche Expansion bedrohte das ökologische Gleichgewicht der Erde, der Artenreichtum ging in nie d a gewesenem Ausmaß zurück und die letzten Zweifler am Modell des Beschleunigten Klimawandels wurden durch die Sandstürme im Jahre 2041 eines Besseren belehrt. Mit anderen Worten: Die Welt stand vor vielen Herausforderungen und am Ende des fünften Jahrzehnts dieses Jahrhunderts war der öffentliche Diskurs von tiefem Pessimismus und einem Gefühl der Bedrohung geprägt.
Im Nachhinein ist man natürlich immer klüger. Von unserem jetzigen Standpunkt aus betrachtet steht jedenfalls fest, dass das Einzige, wovor sich die Bevölkerung wirklich fürchten musste, die Furcht selbst war. Die wahre Gefahr, die in jener Zeit für die Menschheit bestand, war das Schwinden ihrer Zuversicht.
PRÜFER: Definieren Sie Zuversicht.
Die Stimme des Prüfers hatte sich leicht verändert, so wie man es mit einem einfachen Filter bewerkstelligen konnte. Nur dass es keine Technologie war, die Anax hörte, sondern schlicht und einfach Beherrschung.
Jedes Zögern, jedes Aufflackern von Unsicherheit - nichts entging den Prüfern. Gewiss gab dies den Ausschlag für ihre Entscheidung. Anax fühlte sich plötzlich schwerfällig und unscheinbar. Sie hatte noch immer Perikles' letzte Worte im Ohr. »Sie wollen sehen, wie du auf die Herausforderung reagierst. Zögere nicht. Finde mit deinen Worten den Weg zum Verständnis. Vertraue den Worten.« Es hatte sich so einfach angehört. Nun spürte sie, wie sich ihre Gesichtsmuskeln anspannten, und sie musste sich einen Weg zu den Worten bahnen, so wie man im Gedränge nach einem Freund sucht, die Panik im Nacken.
ANAXIMANDER: Mit Zuversicht beziehe ich mich auf die vorherrschende Stimmung jener Zeit. Zuversicht ist die menschliche Fähigkeit, einer ungewissen Zukunft mit Neugier und Optimismus zu begegnen. Sie ist der Glaube daran, dass Probleme und Differenzen gelöst werden können. Sie ist eine Art Vertrauen. Und sie ist ein sehr zerbrechliches Gefühl. Furcht und Aberglaube können es leicht überschatten. Als der Konflikt im Jahr 2050 begann, war die Welt von Furcht und Aberglauben geprägt.
PRÜFER: Erzählen Sie uns mehr über diesen Aberglauben.
ANAXIMANDER: Aberglaube ist das Bedürfnis, die Welt in einfachen Zusammenhängen von Ursache und Wirkung zu sehen. Wie ich bereits erwähnt habe, nahm der religiöse Fundamentalismus stark zu, aber das ist es nicht, was ich mit Aberglaube meine. Der Aberglaube, der zu jener Zeit die Welt beherrschte, war der Glaube an einfache Ursachen.
Selbst das banalste Ereignis beruht auf einem Geflecht unzähliger Möglichkeiten und Verknüpfungen, doch diese Komplexität überfordert den menschlichen Verstand. Wenn in schwierigen Zeiten der Glaube an einfache Götter zerbricht, haben Verschwörungstheorien ein leichtes Spiel. So war es auch damals. D a die Menschen weder imstande waren, Unglücksfälle dem Zufall zuzuschreiben, noch dazu, ihre eigene Bedeutungslosigkeit im großen Ganzen zu akzeptieren, suchten sie nach Monstern in ihrer Mitte.
Je mehr die Medien die Angst anfachten, desto mehr verloren die Menschen die Fähigkeit, aneinander zu glauben. Für jedes neue Übel, das sie heimsuchte, fanden die Medien eine Erklärung und die Erklärung hatte immer ein Gesicht und einen Namen. Schließlich begannen die Menschen sich sogar vor ihren eigenen Nachbarn zu fürchten. Überall suchten sie nach Anzeichen für die Bosheit der anderen: beim Einzelnen, in der Gruppe und innerhalb des Landes. Und wohin sie auch blickten, immer entdeckten sie solche Anzeichen, denn wenn man sucht, dann findet man.
Darin bestand die wahre Herausforderung für die Menschen jener Zeit. Die Herausforderung,
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