Das nicht ganz perfekte Leben der Mrs. Lawrence
Türschwelle erspäht und schoss auf ihn zu. Mo sah, wie ihr großer, blonder Mann sich hinunterbeugte, um seinen kleinen Sohn in die Arme zu nehmen. Sie hörte Rosie auf ihrem Hochstuhl aufgeregt gurgeln und krähen, weil ihr Daddy gleich kommen, ihr die Wange tätscheln und sie auf ihren dunklen, flaumigen Schopf küssen würde. Das war Chads Routine: eine feste Umarmung und ein ›Hey, Kumpel!‹ für Harry, ein schneller Kuss und ein ›Hallo, Süße!‹ für Rosie und dann ein längerer Kuss auf den Mund für Mo– gefolgt von einem kurzen, stillen Austausch amüsierter, ungläubiger Blicke, als wüssten sie beide nicht, wie es zu alldem gekommen war. Auch wenn sie sich natürlich darüber freuten.
An diesem Mittwochabend um zehn vor sechs aber gab es kein ›Hey, Kumpel!‹ Zwar nahm Chad seinen Sohn in die Arme, seine Augen waren jedoch auf Mo gerichtet. Leise prickelnd kroch ihr die Angst den Rücken hinauf und breitete sich von dort aus. Ihr wurde flau im Magen, als wäre sie ins Leere getreten und würde gleich fallen.
Gedämpftes Quaken erinnerte Mo daran, dass ihre Schwiegermutter immer noch in der Leitung war. Sie streckte ihrem Mann den Hörer entgegen.
» Deine Mutter.« Chad nickte. » Soll ich sie auf laut stellen?«
Ihr Mann griff nach dem Hörer. » Mom, ich ruf dich zurück.«
Das Antwortquaken brach abrupt ab.
Rosie, empört, weil um ihren Kuss gebracht, brüllte los. Mo sah, wie Harry das Gesicht verzog, und wusste, auch er würde gleich losweinen. Ihre Angst wurde von einem sehr viel vertrauteren Gefühl hinweggefegt: aufschießender Wut.
» Du wirst diese Kinder jetzt baden«, verkündete sie ihrem Mann. » Du wirst sie beide ins Bett bringen und Harry eine Geschichte vorlesen. Danach findest du mich mit einem großen Glas Wein im Wohnzimmer, und dort wirst du mir ohne die geringsten Ausflüchte erzählen, was zum Teufel eigentlich los ist!«
2
» Du bist schuld«, sagte Mo zu ihrer besten Freundin Darrell.
» Wieso ich? Ich hab Chad ja nur einmal bei eurer Hochzeit gesehen! Ich lebe in London! In einem anderen Land. Auf einem anderen Kontinent!«
Mos kleine Gestalt auf der Skype-Maske hielt sich die Ohren zu. » Nein, nein, nein! Du hörst nicht zu! Viel zu beschäftigt für Vorwürfe!«
» Schön«, seufzte Darrell. Sie ließ sich gegen ihre Kissen sinken und rückte das Laptop auf ihren Knien zurecht. » Ich gebe auf. Wieso ist es meine Schuld?«
» Wegen diesem verdammten Europatrip mit deinem Loverboy! Ich hab Chad an einem Wochenende dabei ertappt, wie er sich die Fotos auf meinem Computer ansah. Von dir und dem Zigeunerbaron in irgendeinem bezaubernden schattigen Tal in Frankreich! Er sah sogar aus, als würde er pfeifen!«
» Anselo pfeift nie«, bemerkte Darrell. » Er summt eher. Außer bei Gloria von Patti Smith. Da singt er mit.«
» Und auf den nächsten Fotos seid ihr auf irgendeinem spektakulären Alpenpass und danach am Ufer vom verdammten Comer See. Übrigens, habt ihr George gesehen?«
» Diese Hoffnung haben uns verhutzelte alte Männer aus dem Dorf zerstört. Signor Giorgio Clooney war mit seiner neuesten bella ragazza in Frankreich. Ich weiß nicht mal, was das heißt.«
» Das ist der italienische Ausdruck für Glückliches Luder … Halt! Wo war ich? Ah ja, beim Schuld zuschieben. Du musst wissen, dass Chad sein gesamtes Leben nur an zwei Orten gewesen ist. Zuhause Nummer eins: hier in Charlotte, North Carolina, und Zuhause Nummer zwei: im Ferienhaus der Familie Lawrence in Ogunquit, Maine. Sie nennen es Die Hütte, weißt du, als wäre es früher mal von irgendwelchen Salz-der-Erde-Hirten bewohnt worden. Aber das ist unwahrscheinlich, weil es erst in den 1920ern gebaut wurde und kein weibliches Oberhaupt der Familie Lawrence je ein Körnchen Salz oder Erde darin dulden würde.«
» Kommst du heute noch zum Punkt?«, fragte Darrell. » Skype ist zwar kostenlos, aber ich hab keine Internetflatrate. Und du hast mich gebeten, dich anzurufen, weißt du noch?«
Mo warf die Hände in die Höhe. » Der Punkt ist, dass Chad noch nicht mal in Boston war, dem Geburtsort seiner Eltern! Er ist so weit gereist wie ein Denkmal! Ich glaube, deine Fotos haben auf ihn gewirkt wie die erste Crack-Pfeife! Und jetzt kauft er sich Lonely Planet -Reiseführer und zwingt uns, hier die Zelte abzubrechen und ans andere Ende des Landes zu ziehen! In dieses bekloppte San Francisco!«
» Tja, da ist sein neuer Job…«
» Aber er braucht keinen neuen Job! Er hat einen sehr
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