Das Orakel vom Berge
ihn kenne, wenn er einmal Christus sieht, würde er sich hinsetzen und nicht aufrecht stehen.«
Die Hymne, erinnerte sich Juliana. »Sie haben also Ihr Schloß auf den Bergen aufgegeben und sind in die Stadt zurückgezogen«, sagte sie.
»Ich möchte Ihnen gerne einen Drink anbieten«, sagte Hawthorne.
»Gerne«, sagte sie und ging mit ihm zur Bar hinüber. »Einen I. W. Harper mit Eis«, sagte sie. »Den mag ich am liebsten. Kennen Sie das Orakel?«
»Nein«, antwortete Hawthorne und füllte ihr Glas.
»Das Buch der Wandlungen?« sagte sie erstaunt.
»Nein«, wiederholte er. Er reichte ihr das Glas.
»Mach dich nicht über sie lustig«, sagte Caroline.
»Ich habe Ihr Buch gelesen«, sagte Juliana. »Heute abend bin ich fertig geworden. Wie haben Sie das alles gewußt über diese andere Welt, von der Sie geschrieben haben?«
Hawthorne sagte nichts; er rieb sich mit dem Finger über die Oberlippe, starrte an ihr vorbei ins Leere und runzelte die Stirn.
»Haben Sie das Orakel benutzt?« sagte Juliana.
Hawthorne sah sie an.
»Ich möchte nicht, daß Sie einen Witz machen«, sagte Juliana. »Sagen Sie es mir ganz ernst, und machen Sie nichts Witziges daraus.«
Hawthorne kaute auf seiner Unterlippe und starrte zu Boden. Dann wippte er langsam vor und zurück. Die anderen Leute im Raum waren verstummt. Und sie war zu weit gekommen und hatte zu viel getan, als jetzt etwas anderes als die Wahrheit von ihm hinzunehmen.
»Das ist – das ist sehr schwer zu beantworten«, sagte Abendsen schließlich.
»Nein, das ist es nicht«, sagte Juliana.
Jetzt waren alle im Raum verstummt; alle sahen sie Juliana an, die bei Caroline und Hawthorne Abendsen stand.
»Es tut mir leid«, sagte Abendsen. »Ich kann darauf jetzt keine Antwort geben. Das müssen Sie einfach so hinnehmen.«
»Warum haben Sie dann das Buch geschrieben?« sagte Juliana.
Abendsen deutete mit seinem Glas auf sie. »Was ist das für eine Nadel, die Sie da am Kleid haben? Wollen Sie damit die gefährlichen Geister der unveränderlichen Welt abwehren? Oder brauchen Sie sie bloß, um alles zusammenzuhalten?«
»Warum wechseln Sie das Thema?« fragte Juliana. »Sie weichen meiner Frage aus und machen eine nichtssagende Bemerkung. Das ist kindisch.«
Hawthorne Abendsen meinte: »Jeder hat – technische Geheimnisse. Sie haben die Ihren; ich die meinen. Sie sollten mein Buch lesen und es einfach so hinnehmen, wie es ist, ebenso wie ich hinnehmen, was ich sehe…«, wieder deutete er mit seinem Glas auf sie. »Ich frage Sie ja auch nicht, ob das da echt ist oder mit Drähten und Stäbchen und Schaumgummipolstern gemacht ist.« Er wirkte jetzt irgendwie gereizt, nur noch mit Mühe höflich. Und Caroline, das sah sie aus dem Augenwinkel, wirkte auch gespannt; sie hatte die Lippen zusammengepreßt und völlig zu lächeln aufgehört.
»In Ihrem Buch haben Sie gezeigt, daß es einen Ausweg gibt«, sagt Juliana. »Ist es das nicht, was Sie gemeint haben?«
»Ausweg«, wiederholte er ironisch.
»Sie haben eine Menge für mich getan«, sagte Juliana. »Jetzt begreife ich, daß es nichts gibt, vor dem man Angst haben muß, nichts, das man wollen oder hassen muß oder vermeiden, und nichts, vor dem man fliehen muß oder das man verfolgen müßte.«
Er sah sie an und drehte sein Glas zwischen den Fingern, studierte sie.
»Es gibt in dieser Welt eine ganze Menge Wertvolles, wenigstens meiner Meinung nach.«
»Ich verstehe, was in Ihrem Geist jetzt vor sich geht«, sagte Juliana. Für sie zeichnete sich in seinem Gesicht der vertraute Gesichtsausdruck aller Männer ab, aber das störte sie nicht. Sie empfand jetzt ganz anders. »In den Gestapoakten stand, daß Sie sich zu Frauen wie mir besonders hingezogen fühlen.«
»Es gibt seit 1947 keine Gestapo mehr«, meinte Abendsen, und sein Gesichtsausdruck veränderte sich dabei kaum.
»Der SD dann eben oder was sonst es sein mag.«
»Werden Sie das erklären?« fragte Caroline.
»Gerne«, nickte Juliana. »Ich bin mit einem von denen nach Denver gefahren. Die werden hier auch auftauchen. Sie sollten an einen Ort gehen, wo man Sie nicht finden kann, statt hier ein gastliches Haus zu führen, in das jeder reinkann. Der nächste, der hier erscheint – den wird keiner aufhalten, so, wie ich das bei dem ersten getan habe.«
»Sie sagen ›der nächste‹«, meinte Abendsen nach einer Weile. »Was ist denn aus dem geworden, mit dem Sie nach Denver gekommen sind? Warum erscheint er hier nicht?«
»Ich hab ihm den
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