Das Orakel vom Berge
gar nicht begreifen konnte: Für viele wohlhabende kultivierte Japaner waren die historischen Gegenstände der amerikanischen Zivilisation von nahezu dem gleichen Interesse wie die Antiquitäten formellerer Art. Warum dem so war, wußte der Major selbst nicht; er selbst sammelte mit besonderer Hingabe alte Magazine, die sich mit US-Messingknöpfen befaßten, ebenso wie diese Knöpfe selbst. Es war etwas Ähnliches wie das Sammeln von Münzen oder Briefmarken; es gab also keine vernünftige Erklärung dafür. Und wohlhabende Sammler zahlten hohe Preise.
»Ich will Ihnen ein Beispiel dafür geben«, hatte der Major gesagt. »Wissen Sie, was man unter ›Schrecken des Krieges‹-Karten versteht?« Er hatte Childan aufmerksam angesehen.
Childan hatte fieberhaft nachgedacht und sich schließlich erinnert. Als er noch ein Kind war, hatte man diese Karten in Kaugummipäckchen finden können. Es hatte eine ganze Serie gegeben und auf jeder Karte war ein anderer ›Schrecken‹ dargestellt.
»Ein lieber Freund von mir«, war der Major fortgefahren, »sammelt ›Schrecken des Krieges‹. Es fehlt ihm nur noch eine Karte. Die Versenkung der Panay . Er hat für diese Karte eine beachtliche Summe geboten.«
Und eines Tages war der Freund mit Himo in Childans Laden erschienen. Auch er war pensionierter Offizier der Kaiserlichen Armee.
»Flaschendeckel!« hatte Childan ausgerufen.
Und die Japaner hatten ihn verständnislos angestarrt.
»Wir sammelten als Kinder die Deckel von Milchflaschen. Die runden Deckel mit dem Namen der Molkerei. Es muß Tausende von Molkereien in den Vereinigten Staaten gegeben haben. Und jede hatte ihren eigenen Deckel.«
Die Augen des Offiziers hatten aufgeleuchtet. »Besitzen Sie Ihre Sammlung noch, Sir?«
Das war natürlich nicht der Fall. Aber… wahrscheinlich war es immer noch möglich, die alten, lang vergessenen Deckel aus der Zeit vor dem Kriege zu finden, als Milch noch in Glasflaschen geliefert wurde statt in Kartons, die man wegwirft.
Und so hatte er sich Schritt für Schritt sein Geschäft aufgebaut. Andere hatten ähnliche Läden eröffnet und damit die zunehmende Begeisterung der Japaner für Americana ausgenützt… Aber Childan hatte immer seinen Vorsprung bewahrt.
»Ich bekomme einen Dollar, Sir«, sagte der Chink und riß ihn damit aus seiner Versunkenheit. Er hatte die Koffer ausgeladen und wartete.
Childan zahlte geistesabwesend. Ja, es war durchaus möglich, daß Mr. Tagomis Klient Major Humo ähnelte; wenigstens, dachte Childan mit einem leisen Lächeln, von meinem Gesichtspunkt aus betrachtet. Er hatte mit so vielen Japanern zu tun gehabt… aber es fiel ihm immer noch schwer, sie zu unterscheiden. Da gab es die kurzen Untersetzten, die wie Ringer gebaut waren, und dann die, die wie Apotheker aussahen. Und die braunen Baum-Strauch-Blumen-Gärtner… Er hatte seine eigenen Kategorien. Und die jüngeren, die auf ihn überhaupt nicht wie Japaner wirkten. Mr. Tagomis Klient war vermutlich würdig, ein Geschäftsmann. Er würde eine Filipino-Zigarre rauchen.
Und dann, als er neben seinen Koffern vor dem Nippon Times Gebäude stand, dachte Childan plötzlich voll Schrecken: Und wenn sein Klient gar kein Japaner ist! Alles in seinen Koffern war darauf aufgebaut, auf Japaner abgestimmt, ihren Geschmack…
Aber der Mann mußte Japaner sein. Ein Rekrutierungsplakat aus dem Bürgerkrieg war Mr. Tagomis ursprüngliche Bestellung gewesen; zweifellos konnte sich nur ein Japaner für solchen Kram interessieren. Das war typisch für ihre Vorliebe für das Triviale, für ihre legalistische Faszination, die sie für Dokumente, Proklamationen, Inserate empfanden. Er erinnerte sich an einen Kunden, der seine ganze Freizeit damit verbracht hatte, Zeitungsanzeigen für amerikanische Patentmedizinen um das Jahr 1900 zu sammeln. Es gab andere Probleme, die es zu lösen galt. Unmittelbare Probleme.
Durch die hohen Türen des Nippon Times Gebäudes eilten Männer und Frauen, alle wohlgekleidet; ihre Stimmen drangen an Childans Ohr, und er setzte sich in Bewegung. Ein Blick nach oben auf das hochragende Gebäude, das höchste von ganz San Francisco. Eine Wand von Büros, Fenstern, die fabelhafte Konstruktion japanischer Architekten – und die Gärten mit zwergenhaften immergrünen Gewächsen, die sie umgaben, Felsen, die Karesansui-Landschaft, Sand, der einen eingetrockneten Strom imitierte, der sich an Wurzeln vorbeiwand, zwischen einfachen, unregelmäßigen, flachen Steinen…
Er sah einen
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