Das Orakel von Theran
hatte selbst gesehen, dass Mythor nur eine einzige Bewegung machte, und zwar zum Gürtel, um ihn sich enger zu schnallen.
»Nun bleibt dir nur noch übrig, die Straße der Elemente aufzusuchen«, sagte Maluk mit feierlichem Ernst. »Gehst du sie entlang, kommst du zum Tor des Feuers und des Wassers, der Luft und der Erde. Hier wird sich entscheiden, ob das Orakel dich erhört oder nicht.«
»Du meinst, ich soll es sogleich versuchen, ohne mich entsprechend vorbereitet zu haben?« fragte Mythor.
»Du hast alle Bedingungen erfüllt, bist auf allen Pfaden gewandelt, die nach Theran führen. Jetzt verbleibt nur noch das eine«, antwortete Maluk.
Mythor betrachtete ihn von der Seite, um festzustellen, ob er sich mit ihm einen Scherz erlaubte. Aber der Orakeldiener blieb ernst. Mythor wollte einwenden, dass der Strom des Wissens ihn nicht erfasst und dass er an der Mauer der Besinnung ebenso versagt hatte wie am Stein der Bewährung, und hätte er nicht wenigstens ein reinigendes Bad nehmen müssen?
Aber er brachte diese Einwände nicht vor, denn da sagte Maluk vertraulich: »Ich weiß, dass der Weg zum Orakel für dich offensteht, Bruder Mythor. Ich weiß auch, dass es Kräfte gibt, die dir diesen Weg versperren wollen. Aber Lass dich nicht beirren.«
Mythor dachte an die Warnung Gorels, der ihm zur Flucht geraten hatte. Warum wollte der Alte verhindern, dass er das Orakel befragte? Hatte er Angst, dass Mythor die Wahrheit über sich erfahren konnte? Er straffte sich und folgte Maluk.
*
Die Straße der Elemente: Sie war breit und mit Stein gepflastert. Der Stein war abgewetzt, ausgetreten von unzähligen Füßen, die während vieler Menschenalter zum Orakel von Theran gepilgert waren. Links und rechts standen Steinstatuen auf Quadern, davor brannten Öllichter. Ihr flackernder Schein schien den Statuen Leben zu verleihen.
Zum erstenmal spürte Mythor die Bedeutung dieses Ortes. Ein Hauch des Geheimnisvollen, Mystischen, den er sonst noch nirgends in Theran gespürt hatte, lag über dieser Straße, die von zwölf Statuen auf jeder Seite begrenzt wurde. Sie wurden zum Tor hin, dem Zugang zum Orakel, immer größer und eindrucksvoller, mächtiger und phantastischer.
Links von sich sah Mythor die Darstellung eines Tieres mit sieben Beinpaaren. Es hatte einen kleinen Kopf und einen buckeligen Rücken, der Schwanz endete in einem kugeligen Busch. Mythor sah, dass diese Tierstatue durchlöchert war, und er stellte staunend fest, dass daraus ebensolche Tiere auftauchten, wie eines vergrößert dargestellt war. Die lebenden Tiere waren etwa unterarmlang und sehr possierlich.
»Das ist der Siebenläufer«, raunte ihm Maluk zu, der an seiner Seite ging. »Er ist ein seltenes und heiliges Tier und gilt als Glücksbringer.«
Dem Siebenläufer gegenüber war ein Tier dargestellt, das den Kopf eines Ochsen, den Vorderkörper von einem Hirsch und das Hinterteil einer Echse hatte, der Schwanz aber wurde von einer Schlange mit Mammutkopf gebildet.
In der nächsten und übernächsten Reihe standen sich Gottheiten mit menschlichen Körpern gegenüber. Eine hatte jedoch einen Berg als Kopf, die andere war überhaupt kopflos, aus dem Hals der dritten ergoss sich ein Wasserschwall, und der Kopf der vierten Gottheit brannte: die vier Elemente.
Mythor betrachtete die Gottheiten fasziniert. Dabei vergaß er beinahe, dass er mit Maluk allein auf der Straße der Elemente schritt. Er wurde sich dessen erst bewusst, als er hinter einer der Statuen eine Bewegung wahrnahm. Bei genauerem Hinsehen erkannte er, dass im Dunkeln eine dichte Menschenmenge stand und ihn beobachtete.
Plötzlich entstand dort ein Tumult. Ein Mann brach aus der Reihe aus und kam auf die Straße gerannt. Er schloss sich Mythor an. Mythor besah ihn sich jedoch nicht genauer, denn ihm war, als habe er in der Menschenmenge ein bekanntes Gesicht gesehen. Er verharrte kurz und blickte genauer hin. Da war das Gesicht wieder. Für einen Moment tauchte es in der Masse auf, verschwand aber sofort wieder.
Mythor war sicher, dass es sich um Luxon handelte. Er wollte die Straße verlassen, um sich den Abenteurer aus Sarphand vorzunehmen. Doch Maluk stellte sich ihm in den Weg.
»Nur Mut, Bruder Mythor«, sagte er zu ihm. »Du brauchst jene nicht zu fürchten, die dir Knüppel zwischen die Beine werfen. Ich werde alle Hindernisse aus dem Weg räumen und dich zum Orakel geleiten.«
Mythor fügte sich. Inzwischen hatte sich Luxon bestimmt schon längst aus dem Staub gemacht.
Weitere Kostenlose Bücher