Das Paradies ist weiblich
ein Anbau entstehen.
Tsies Sohn, der an einem der Holzgerüste arbeitet, heißt Han Tsie. Han ist sein Vorname und Tsie der Nachname seiner Mutter.
Er ist der Geliebte von Li Jien, dem jungen Mädchen, dem ich neulich beim Kämmen zusehen konnte. Nach seinem ersten Arbeitstag
ruft Sanshie ihn zu sich, sie will unter vier Augen mit ihm sprechen. Die Matriarchin bittet ihn in den Hauptraum des Hauses,
ich darf dabei sein und einen Buttertee mit ihnen trinken.
Mit eingezogenem Kopf betritt Han Tsie den Raum – überall im Dorf sind die Türöffnungen so niedrig, dass man gezwungen ist,
sich beim Eintreten zu verneigen. Es ist ein Zeichen von Respekt gegenüber der Familie.
Han Tsie nimmt Platz, man stellt ihm eine Tasse Tee und ein Tellerchen mit Sonnenblumenkernen hin. Als Sanshie mit der dampfenden
Kanne zum wiederholten Male auf mich zusteuert, lehne ich dankend ab. Zum Glück sind wir mittlerweile so vertraut, dass es
kein Fauxpas mehr ist, wenn ich ihr offen sage, dass ich beim besten Willen nicht noch mehr davon trinken kann.
Die Matriarchin erkundigt sich bei Han nach seiner Mutter. Sie sei Paprika ernten, antwortet der junge Mann. Es ist offenkundig,
dass Sanhsie besser |34| über Tsies Leben Bescheid weiß als er. Und so ist es nur noch eine Frage von ein paar Höflichkeitsfloskeln, bevor Sanshie
zu ihrem Lieblingsthema überschwenkt.
»Sag, besuchst du ein Mädchen?«
Han lächelt und senkt den Kopf. Auch wenn er es zu verbergen versucht, ist völlig klar, dass er bis über beide Ohren in Li
Jien verliebt ist.
Ohne ihm Zeit für eine Antwort zu geben, fügt Sanshie hinzu: »Wenn nicht, dann würde ich dir sehr gern jemanden vorstellen,
der dir mit Sicherheit gefallen wird.«
Solche Sätze kenne ich mittlerweile von ihr. Auch mir ist sie schon mit ähnlichen Bemerkungen gekommen, kaum dass wir uns
halbwegs verständigen konnten. Ich weiß nicht, wie sie es anstellt, aber immer zaubert sie jemanden aus dem Hut, den sie einem
vorstellen möchte. Die Rolle der Vermittlerin macht ihr Spaß, und sie freut sich, wenn sie die Pärchen abends am Seeufer flanieren
oder ausreiten sieht.
Der junge Mann schweigt, und Sanshie überreicht ihm schmunzelnd eine Handvoll Yuans. Das ist der mit Tsie ausgehandelte Preis.
Da es in Luoshui keine Ruhetage gibt, verabschieden sie sich bis zum nächsten Morgen. Ich schaue dem achtundzwanzigjährigen
Han Tsie |35| nach, wie er mit seinem Arbeitslohn den Weg zum Haus der Mutter einschlägt. Über den Leinenhosen trägt er Stiefel, einen sonnengelben
Kasack und einen Hut mit schmaler Krempe. Mit dem Lohn von Sanshie tut er das, was alle Männer im Dorf tun: Er gibt ihn seiner
Mutter.
Allerdings braucht Han diesmal selbst ein paar Yuans. Am Abend wird zum Tanz aufgespielt, und wenn er Glück hat, wird Li Jien
ihm ein Rendezvous zugestehen, zu dem er keinesfalls mit leeren Händen erscheinen will. Er ist sich sicher: Ein Geschenk wird
ihm Tür und Tor zum Herzen der Angebeteten öffnen – und hoffentlich auch zu ihrem Zimmer.
Was machen die Männer im Dorf in einem Fall akuter Geldnot? Sie bitten ihre Mütter um Geld.
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»Sie lädt uns zum Mittagessen ein«, übersetzt Lei.
Gleich nach der Begrüßung macht mir Ma La Tsu dieses gastfreundliche Angebot.
»Ich nehme die Einladung sehr gern an«, bitte ich Lei für mich zu antworten.
»Das habe ich schon gesagt.« Lei kennt mich inzwischen gut genug, um mir in solchen Fällen zuvorzukommen.
Ich habe Ma La Tsu in einem Laden in der Hauptstraße kennengelernt, in dem ich eine Flasche Mineralwasser und sie ein Haushaltsgerät
suchte. Sie ist schlank, in den Vierzigern, und ich habe sie schon häufiger am Bootsanlegeplatz gesehen. Abends gehe ich dort
oft mit meiner Kamera hin, es ist ein beliebter Treffpunkt für alle, die nach getaner Arbeit ein Pläuschchen halten wollen.
Ma La Tsu bin ich noch nie in der Tracht der Mosuo begegnet, und auch heute trägt sie einen grauen Anzug und das Haar zurückgebunden
unter einer Mao-Mütze.
|37| Ma La ist die Matriarchin des Tsu-Hauses. Sie hat drei Töchter, und gemessen an anderen, ist ihre Familie nicht sehr groß,
insgesamt sind sie zu zwölft.
Als »Familie« bezeichnen die Mosuo direkte Blutsverwandte, die auf demselben Grundstück leben. Oberhaupt des Clans ist die
Matriarchin. Bei ihr leben ihre Kinder, ihre Mutter und ihre Geschwister, sowohl die Brüder als auch die Schwestern. Ferner
gehören die Kinder der
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