Das Paradies ist weiblich
Priesterinnen eines mysteriösen Kultes, zu einer Orgie im Mondschein kommt. Dass die Damen
in einem Zustand wilder Erregung aufhören, sich wie solche zu benehmen, und sich erbarmungslos auf den ausgezehrten Epheben
stürzen, der es leid ist, für die Meinungsbildnerinnen der matriarchalischen Gesellschaft sexy zu sein.
Bilder, die einer der unzähligen abstrusen männlichen Phantasien über das Weibliche entspringen, das sich dem Mann nicht so
recht erschließen will.
Als in Europa die Psychoanalyse entstand und |29| man sich die Frage stellte, was die Frau will – eine Frage, die viele Menschen auf die Couch führte –, gingen auf dem indischen
Subkontinent die Kopfjäger unermüdlich auf Beutezug, um dem Wesen der weiblichen Seele auf die Schliche zu kommen. Ein Rätsel,
das wie kaum ein anderes auf der Welt den Wunsch weckte, es zu ergründen.
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Eine Mosuo-Frau wäscht am See. Sie hockt auf einem improvisierten Steg aus einer Holzplanke, die einige Meter in das Wasser
reicht. So kann sie, ohne nass zu werden, die Wäsche einseifen, sauberreiben und ausspülen. Von der Hauptstraße kommt eine
andere Frau, es ist Sanshie, mit ihrer Wäsche auf sie zu und gesellt sich zu ihr.
Sanshie und Tsie waschen und tauschen sich über die Neuigkeiten im Dorf aus. Am Ende sind sie zufrieden: Sie konnten sich
ein Stündchen ungestört unterhalten, und die Arbeit ist auch erledigt.
Sanshie beklagt des Öfteren Tsies Schicksal. »Sie hat nur Söhne«, sagt sie bekümmert. Sogleich fügt sie hinzu, dass sie sich
glücklich schätze, denn sie habe drei Töchter bekommen, mit denen sie einen ertragreichen Hof aufbauen konnte.
Zu Tsies Unglück kommt hinzu, dass sie nicht nur keine Töchter, sondern auch keine Schwestern hat. Und die erlaubte Anzahl
von Kindern hat sie ausgeschöpft – drei sind bereits ein Privileg.
|31| Die Geburtenkontrolle in China ist äußerst streng. Die Nahrungsmittel müssen für alle reichen, und wenn die Bevölkerung weiter
wächst, so die Befürchtung, kommt es zu Hungersnöten. Der Staat erlaubt genau ein Kind. Ein Paar, das zwei Kinder haben möchte,
läuft Gefahr, die Arbeit oder die staatlichen Zuwendungen zu verlieren oder eine saftige Strafe zahlen zu müssen. Allein weil
die Mosuo als ethnische Minderheit gelten und die Regierung heutzutage am Erhalt der Gemeinschaft interessiert ist, sind ihnen
bis zu drei Kinder erlaubt.
Tsie und Sanshie sind gleich alt, aber Tsie wirkt viel älter. Sie lebt allein mit drei Männern, und eine solche Situation
würde im Dorf auf Dauer jeden auslaugen. Auch wenn ihre Söhne nützlich waren, als es darum ging, ein komfortables Heim zu
errichten, grenzt es doch an einen Alptraum, einen kompletten Haushalt ohne die Unterstützung anderer Frauen schmeißen zu
müssen.
In Sanshies Familie hingegen gibt es keine Männer. Sanshie hat weder Brüder noch Söhne. Aber das ist nicht wirklich ein Problem.
Sie hat drei Mädchen geboren, die von klein auf gelernt haben, das Zepter zu schwingen, und sie arbeiten hart, damit der Hof
prosperiert. Auf dem Feld macht ihnen keiner etwas vor, doch für die schweren Verrichtungen |32| – Holzstämme beischaffen, Zementsäcke schleppen, den Fußboden ebnen oder die Dachziegel sicher anbringen – müssen sie männliche
Arbeiter anheuern. Und da Tsies Familie eine der ärmsten im Ort ist, unterbreitet Sanshie ihrer Freundin einen Vorschlag.
Sanshies Tochter ist dreizehn, bald wird die Zeremonie ihrer Initiation in das Erwachsenenleben stattfinden. Bis dahin muss
für sie ein eigenes Heim auf dem Familiengrundstück gebaut werden. Einer von Tsies Söhnen könnte auf dem Bau mithelfen. Tsie
hätte eine zusätzliche Einnahmequelle, ein wenig Geld, das sie nicht selbst verdienen muss. Es bedarf nur einiger weniger
Sätze, und schon sind sich die Freundinnen handelseinig.
In den nächsten Tagen gelingt es mir wieder nicht, Yasi, die Matriarchin, in deren Haus ich wohne, zu interviewen. Immer kommt
etwas dazwischen – heute muss sie in ein benachbartes Dorf fahren. Da ich keine anderen Pläne habe, schaue ich, wie so oft,
bei Sanshie vorbei.
Tsies Sohn und zwei weitere Männer haben bereits mit den Bauarbeiten begonnen. Die Auftraggeberin Sanshie weiß ganz genau,
was sie will. Sie steht in der Mitte des Hofs, die Arme in die Seiten gestützt, und gibt energisch ihre Anweisungen. Wo |33| sich jetzt eine Freifläche befindet, soll noch vor dem ersten Schnee
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