Das Paradies
den Wagen, und alle verstummten bei ihrem Anblick. Auf einen Stock gestützt, ging sie die wenigen Schritte bis zur geöffneten Tür der Ambulanz. Sie war ganz in Weiß gekleidet, das Zeichen ihrer Pilgerreise nach Mekka. Kopf, Schultern und die untere Gesichtshälfte verhüllte ein weißer Seidenschleier. Sie trug einen blendend weißen Kaftan mit weiten Ärmeln, die bis zu den Handgelenken reichten. Der Saum des Kaftans schleifte über den Boden. Als sie in der Tür stand, wirkte sie im Gegenlicht der untergehenden Sonne wie ein geheimnisvoller weißer Schatten. Amira sah nur die dunklen Augen, die sich klar und forschend auf sie richteten. Die zwei Frauen betrachteten sich stumm, während hinter Khadija der aufgewirbelte Staub in den Sonnenstrahlen tanzte und die Dorfbewohner sich in einem dichten Halbkreis vor der Tür drängten und aufgeregt miteinander flüsterten. Wer war diese reiche, bedeutende Frau, die ihre Doktorin besuchte?
Khadija brach schließlich das Schweigen und sagte auf arabisch: »Gott schenke dir Frieden und SEINE Gnade.«
Amira starrte sie an. Diese Frau besaß noch immer die Macht, in ihr Angst, Ehrfurcht und auch Zorn auszulösen. Amira hatte sie einst aus ganzem Herzen geliebt und verehrt, aber dann geschah das Schreckliche, sie war bis ins Innerste verwundet und konnte diese Frau nur noch verachten.
Erinnerungen stellten sich bei ihrem Anblick blitzartig ein: die fünfjährige Amira sucht weinend mit einem aufgeschlagenen Knie bei Khadija Schutz und Trost – Amira hört staunend, wie Khadija wundersame Geschichten von Heiligen und Dschinns erzählt – Khadija erklärt Amira vor ihrer Hochzeitsnacht die ehelichen Pflichten einer Frau …
Oh ja, das war Khadija für sie gewesen, eine Frau, die alles zu wissen schien, die jede menschliche Schwäche, Tugend und alle Anfechtungen verstand und akzeptierte.
Aber Khadija hatte tatenlos zugesehen, wie Amira praktisch zum Tode verurteilt wurde.
Und jetzt stand diese Frau in dem ehrenvollen Gewand einer Pilgerin vor ihr und stützte sich mit der einen Hand nachdenklich auf den Stock. Amira fand, sie sei kleiner als in ihrer Erinnerung, aber ihr angeborener Adel und der förmliche Stolz, den alle an ihr kannten, waren noch immer unverändert spürbar. Amira lächelte unbewußt, denn sie erinnerte sich an Sandelholz und Veilchen, an das erfrischende Plätschern des alten Brunnens im Innenhof des herrschaftlichen Hauses in der Paradies-Straße und vor allem an den köstlichen Geschmack der reifen, zuckersüßen Aprikosen, die Khadija ihnen an heißen Nachmittagen in den Garten brachte. Und sie erinnerte sich an ihren letzten Tag in Ägypten, als sie enterbt, verflucht und verstoßen aus dem Land geflohen war.
»Auch dir schenke Gott Frieden, SEINE Gnade und SEINEN Segen. Mein Haus sei auch dein Haus.«
Aber das waren nur leere und bedeutungslose Worte, ein Ritual der Höflichkeit, weiter nichts.
Nach einer leichten Verbeugung und einer höflichen Geste verließ Amira mit ihrem Gast die Ambulanz. Wie immer, wenn Fremde nach Al Tafla kamen, begleiteten die Dorfbewohner die Besucherin. Während die Dunkelheit herabsank, gingen sie wie bei einer Prozession den Fußpfad am Nil entlang. Es roch nach gebratenem Fisch und kochenden Bohnen. Die Frauen standen vor ihren Hütten. Halbnackte Kinder drängten sich um sie und starrten mit großen Augen auf die weiß gekleidete vornehme Frau. Amira und Khadija schwiegen, aber die wachsende Spannung war nur allzu deutlich. Khadija blickte unverwandt geradeaus und hielt den weißen Schleier fest über die untere Gesichtshälfte. In ganz Ägypten trugen die Frauen wieder den traditionellen Schleier. Khadija Raschid hatte ihn nie abgelegt.
Als sie den Dorfrand erreichten, war die Sonne bereits dunkelrot hinter den Bergen im Westen versunken. Orangefarbene und rosarote Strahlen glühten wie ein heißes Feuer über dem blauen Nil und den grünen Feldern, die von der Dunkelheit bereits in tiefes Schwarz getaucht waren. Um Al Tafla wuchsen Orangen- und uralte Feigenbäume. Auch Wein wurde hier angebaut. Es war ein typisches Dorf am Nil. Die Frauen trugen riesige Wasserkrüge auf den Köpfen, die sie im Fluß gefüllt hatten. Kinder trieben Wasserbüffel mit Stöcken vor sich her, und die Männer kehrten müde von den Feldern zurück – so wie ihre Ahnen schon zur Zeit der Pharaonen.
Amira bewohnte allein ein kleines, frisch gestrichenes Haus direkt am Nil. Es stand inmitten schattenspendender Maulbeerbäume.
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