Das Paradies
alle Geschichten unserer Familie? Bei dem Propheten – Friede sei mit ihm –, du kennst die Geheimnisse unserer Familie nicht, die Geheimnisse, die auch dein Leben bestimmen. Aber jetzt ist die Zeit gekommen, daß du sie kennenlernst.« Khadija nahm die Ledertasche auf den Schoß und holte eine alte geschnitzte, mit Elfenbein eingelegte Schatulle heraus. Auf dem Deckel stand auf arabisch:
Gott der Barmherzige.
»Du erinnerst dich an die Misrachis. Sie waren unsere Nachbarn in der Paradies-Straße. Sie mußten Ägypten verlassen, weil sie Juden sind. Marijam Misrachi war meine beste Freundin. Wir haben unsere Geheimnisse gegenseitig gehütet. Ich will dir alle unsere Geheimnisse anvertrauen, denn du stehst meinem Herzen am nächsten, und ich möchte dich mit deinem Vater aussöhnen. Ich werde dir sogar Marijams größtes Geheimnis erzählen. Sie ist gestorben, deshalb darf ich mit dir darüber sprechen. Und dann werde ich dir von meinem eigenen schrecklichen Geheimnis berichten, das nicht einmal dein Vater kennt. Aber zuerst mußt du dir alles andere anhören.«
»Ich kann nicht mit dir nach Kairo zurückfahren. Vergiß nicht, ich bin für euch alle tot«, sagte Amira und verschluckte das gewohnte »Umma«, Mutter, mit dem sie Khadija immer angesprochen hatte.
»Dein Vater und ich haben dich für tot erklärt, mein Kind, weil …«
Amira hob die Hand. »Sajjida«, unterbrach sie Khadija und wählte bewußt die förmliche Anrede, »was geschehen ist, ist geschehen. Und alles stand von Anbeginn der Zeit so bei Gott geschrieben. Ich werde nicht mit dir nach Kairo zurückfahren!«
Aber Khadija achtete nicht auf ihren Einwurf, sondern öffnete den Deckel der Schatulle. Amira erschauerte. Sie hatte Angst vor dem, was dort zum Vorschein kommen mochte, aber sie wollte es auch wissen. Es klang kläglich, als sie flüsterte: »Ich möchte deine Geheimnisse nicht hören …«, denn sie begriff, daß Khadija sie auf eine Reise in die Vergangenheit mitnehmen wollte.
»Du wirst mir deine Geheimnisse anvertrauen«, sagte Khadija. »Ja, denn auch du hast Geheimnisse.« Sie seufzte. »Wir wollen uns vertrauen, und wenn Gott aus unserem Mund die ganze Geschichte hört, dann flehe ich IHN an, uns in SEINER großen Güte erkennen zu lassen, was wir tun müssen.« Sie holte tief Luft und begann langsam zu erzählen: »Das erste Geheimnis, Amira, reicht in das Jahr vor deiner Geburt zurück. Damals war der Zweite Weltkrieg gerade vorüber, und die Welt feierte den Frieden. Es geschah in einer warmen Sommernacht, einer Nacht voller Hoffnungen und Versprechungen. In dieser Nacht versank unsere Familie noch tiefer in den Abgrund …«
Erster Teil ( 1945 )
1 . Kapitel
»Prinzessin, sieh nur, dort oben am Himmel! Siehst du das geflügelte Pferd über den Himmel galoppieren?«
Das kleine Mädchen blickte zum nächtlichen Himmel hinauf, sah aber nur das endlose Sternenmeer. Als die Kleine den Kopf schüttelte, wurde sie liebevoll umarmt. Noch während sie unter den vielen Sternen das fliegende Pferd suchte, hörte sie in der Ferne ein dumpfes Donnern wie bei einem Gewitter.
Plötzlich umgab sie ohrenbetäubender Lärm und Geschrei. Die Frau, die sie an sich drückte, rief: »Gott helfe und beschütze uns!« Im nächsten Augenblick tauchten kriegerische schwarze Gestalten aus der Dunkelheit auf. Sie ritten auf riesigen Pferden und trugen schwarze wehende Gewänder. Das Mädchen glaubte, sie seien vom Himmel auf die Erde gekommen, und hoffte, die großen gefiederten Flügel zu sehen.
Aber dann flohen sie vor den unheimlichen Reitern und rannten durch die Nacht – Frauen und Kinder. Sie wollten sich verstecken, während Schwerter im Licht der Lagerfeuer blitzten und laute Schreie zu den kalten, unbeteiligten Sternen hinaufstiegen.
Das Mädchen klammerte sich an die Frau. Sie kauerten hinter einer großen Truhe. »Still, Prinzessin«, flüsterte die Frau, »sie dürfen uns nicht hören.«
Angst, Entsetzen und dann – dann wurde die Kleine brutal aus den schützenden Armen der Frau gerissen. Sie schrie …
Khadija erwachte. Es war dunkel im Zimmer, aber sie sah, daß die silbernen Strahlen des Frühlingsmondes wie ein Mantel über ihr Bett fielen. Sie richtete sich auf und schaltete die Nachttischlampe ein. Es wurde sofort angenehm hell, und sie legte die Hand auf die Brust, als könnte sie damit das rasend schlagende Herz beruhigen. Khadija dachte: Die Träume fangen wieder an.
Deshalb erwachte sie nicht ausgeruht, denn die
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