Das Parfum: die Geschichte eines Mörders
fielen Zweifel und Unsicherheit von ihm ab, und es erfüllte ihn eine herrliche Ruhe. Er presste seinen Rücken gegen die weichen Kissen des Kanapees, schlug ein Buch auf und begann, in seinen Erinnerungen zu lesen. Er las von den Gerüchen seiner Kindheit, von den Schulgerüchen, von den Gerüchen der Straßen und Winkel der Stadt, von Menschengerüchen. Und angenehme Schauer durchrieselten ihn, denn es waren durchaus die verhassten Gerüche, die exterminierten, die da beschworen wurden. Mit angewidertem Interesse las Grenouille im Buch der ekligen Gerüche, und wenn der Widerwille das Interesse überwog, so klappte er es einfach zu, legte es weg und nahm ein anderes.
Nebenher trank er ohne Pause von den edlen Düften. Nach der Flasche mit dem Hoffnungsduft entkorkte er eine aus dem Jahre 1744, die gefüllt war mit dem warmen Holzgeruch vor dem Haus der Madame Gaillard. Und nach diesem trank er eine Flasche sommerabendlichen Dufts, parfumdurchweht und Blütenschwer, aufgelesen am Rande eines Parks in Saint-Germain-des-Pres anno 1753.
Er war nun mächtig angefüllt von Düften. Die Glieder lagen immer schwerer in den Kissen. Sein Geist benebelte sich wunderbar. Und doch war er noch nicht am Ende des Gelages. Zwar konnten seine Augen nicht mehr lesen, war ihm das Buch längst aus der Hand geglitten - aber er wollte den Abend nicht beschließen, ohne noch die letzte Flasche, die herrlichste, geleert zu haben: Es war der Duft des Mädchens aus der Rue des Marais...
Er trank ihn andachtsvoll und setzte sich zu diesem Zweck aufrecht auf das Kanapee, obwohl ihm das schwerfiel, denn der purpurne Salon schwankte und kreiste um ihn bei jeder Bewegung. In schülerhafter Haltung, die Knie aneinandergepresst, die Füße dicht an dicht gestellt, auf den linken Oberschenkel seine linke Hand gelegt - so trank der kleine Grenouille den köstlichsten Duft aus den Kellern seines Herzens, Glas um Glas, und wurde immer trauriger dabei. Er wusste, dass er zu viel trank. Er wusste, dass er so viel Gutes nicht vertrug. Und trank doch, bis die Flasche leer war: Er ging durch den dunklen Gang von der Straße in den Hinterhof. Er ging auf den Lichtschein zu. Das Mädchen saß und schnitt die Mirabellen auf. Von weit her krachten die Raketen und Petarden des Feuerwerks...
Er stellte das Glas ab und blieb noch, von der Sentimentalität und vom Suff wie versteinert, ein paar Minuten lang sitzen, so lange, bis auch der letzte Nachgeschmack von der Zunge verschwunden war. Er glotzte vor sich hin. In seinem Hirn war es plötzlich so leer wie in den Flaschen. Dann kippte er um, seitlich aufs purpurne Kanapee und versank von einem Moment zum anderen in einen betäubenden Schlaf.
Zur gleichen Zeit schlief auch der äußere Grenouille auf seiner Pferdedecke ein. Und sein Schlaf war ebenso abgrundtief wie der des inneren Grenouille, denn die herkuleischen Taten und Exzesse von diesem hatten jenen nicht weniger erschöpft - schließlich waren beide ja ein und dieselbe Person.
Als er aufwachte allerdings, wachte er nicht auf im purpurnen Salon seines purpurnen Schlosses hinter den sieben Mauern und auch nicht in den frühlingshaften Duftgefilden seiner Seele, sondern einzig und allein im Steinverlies am Ende des Tunnels auf dem harten Boden in der Finsternis. Und ihm war speiübel vor Hunger und Durst und fröstelig und elend wie einem süchtigen Trinker nach durchzechter Nacht. Auf allen vieren kroch er aus dem Stollen.
Draußen war irgendeine Tageszeit, meistens die beginnende oder die endende
Nacht, aber selbst bei Mitternacht stach ihm die Helligkeit des Sternenlichts wie Nadeln in die Augen. Die Luft erschien ihm staubig, raß, lungenbrennend, die Landschaft hart, er stieß sich an den Steinen. Und selbst die zartesten Gerüche wirkten streng und beizend auf seine weltentwöhnte Nase. Grenouille, der Zeck, war empfindlich geworden wie ein Krebs, der sein Muschelgehäuse verlassen hat und nackt durchs Meer wandert.
Er ging zur Wasserstelle, leckte die Feuchtigkeit von der Wand, ein, zwei Stunden lang, es war eine Tortur, die Zeit nahm kein Ende, die Zeit, in der ihm die wirkliche Welt auf der Haut brannte. Er riss sich ein paar Fetzen Moos von den Steinen, würgte sie in sich hinein, hockte sich hin, schiss während er fraß schnell, schnell, schnell musste alles gehen – , und wie gejagt, wie wenn er ein kleines weichfleischiges Tier wäre und droben am Himmel kreisten schon die Habichte, lief er zurück zu seiner Höhle bis ans Ende des
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