Das Perlenmaedchen
und in Baumwolle sickerte, dunkel und kalt wurde. Als er mit geschlossenen Augen alles aufleckte und spürte, wie Ziyals Kraft in ihn eindrang, wurde ihm bewusst, dass sich die Götter auf diese Weise ernährten, und er spürte, wie es war, wenn ihnen ein Menschenopfer dargebracht wurde.
Je mehr er von dem Blut aufnahm, das durch ihre Baumwolltunika sickerte, desto weniger empfand er Entsetzen und Wut und Kummer. Eine weitere in grelles Licht getauchte Vision überwältigte ihn. So wie die Götter ihn auf dem Marktplatz von Tikal und abermals in Palenque erleuchtet und ihm zu erkennen gegeben hatten, was ihm bestimmt war, wurde Balám auch jetzt von gleißender Helligkeit eingehüllt und mit einer solch ungeheuren Wahrheit konfrontiert, dass er aufschrie.
Ziyal war nicht tot.
Sie lebte weiter. In ihm. Und nachdem er ihr Blut getrunken hatte, dürstete ihn nach mehr, erkannte er doch, dass er dadurch, dass er die Lebenskraft seiner Feinde aussaugte, sich den Status eines Gottes erwarb.
Als erneut Zorn in ihm aufstieg und er sich seiner Situation bewusst wurde, veränderte sich die Vision, wurde dunkler. Der Auslöser dafür war Chac. Ihm war anzulasten, dass ein Unschuldiger seine eigene Tochter ermordet hatte. Ihn deswegen einfach umzubringen, war nicht mehr genug. Chac sollte auf ganz ausgefallene Art sein Leben verlieren.
Balám sah ein Bild vor sich. Chacs Bestrafung und Folter sollten sein, dass sein eigenes Volk sich mit seinem Feind verbündete. Chac sollte von seinem eigenen Stamm erschlagen werden.
Lange Zeit verharrte Balám über den Leichnam seiner Tochter gebeugt, bis schließlich das Leben in ihn zurückkehrte. Zitternd und schweißgebadet stand er auf, wandte sich dann trotz seines blutverschmierten Mundes mit Ehrfurcht gebietendem Blick an seine Gefolgsmänner. »Wir werden für meine Tochter ein heiliges Begräbnis abhalten«, sagte er ruhig, »denn sie ist jetzt eine Göttin. Anschließend ziehen wir uns in die nördlichen Berge zurück und werden dort über den entscheidenden Angriff auf dieses Tal beratschlagen.«
»Vetter«, gab einer der jungen Männer in Anbetracht der großen Armee von Häuptling Cocoxtli zu bedenken, »dazu sind wir noch nicht schlagkräftig genug.«
Balám nickte. »Ich weiß. Deshalb werden wir uns mit einem mächtigen Stamm verbünden, der ebenso zu Unrecht verachtet ist wie wir.«
»Mit welchem?«
»Mit den Mexica.«
Chacs Stamm.
63
»Was ist denn das?« Einauge hob den Blick von der Glut, in der er herumstocherte. Sie hatten ihr Lager in einem Wald im Hochland von Michoacán aufgeschlagen, in Purépecha-Gebiet, etliche Tagesmärsche westlich vom Tal von Anahuac entfernt. Ganz in der Nähe befand sich das Dorf Pátzcuaro, was so viel wie »Ort der Steine« bedeutete. Alle schauten in Richtung der Bäume, von wo aus ein merkwürdiges Rasseln zu ihnen drang. Toninas Handvoll Soldaten sprangen sofort auf und griffen zu ihren Waffen. Das unheimliche Lärmen verstärkte sich, klang wie Hagel, der auf ein steinernes Dach prasselt oder wie klappernde Knochen. »Geister!«, schrie jemand, schon weil die Sonne untergegangen war und sich Nacht über den Bergwald gesenkt hatte.
Was da aber zwischen den Bäumen auftauchte und in den Fackelschein des Lagers trat, waren Männer – Träger mit Stirnriemen und schweren Lasten auf den gekrümmten Rücken. Ihnen voran ging, auf einen hölzernen Stab gestützt, ein gedrungener Mann, der einen schlichten Lendenschurz und einen Umhang aus Agavenfasern trug – die Kleidung armer Leute.
»Der Segen der Götter sei mit Euch!«, rief er auf Nahuatl.
Einauge atmete erleichtert auf und bedeutete den Freunden am Lagerfeuer, dass keine Gefahr drohte. Die armselige Kleidung des Neuankömmlings verriet dem erfahrenen Einauge, dass hier ein Handeltreibender unterwegs war, der an- und verkaufend durchs Land zog, von den Barbaren im Norden bis zu den Maya im Osten und Süden. Und da derlei Händler als ungemein wohlhabend galten, taten sie alles, um dies zu vertuschen.
»Ich bin Oxmyx von Amecameca«, stellte er sich jetzt großspurig vor, nicht ohne nach den gehäuteten Hasen zu schielen, die sich am Spieß über dem Feuer drehten. »Lieferant von Trommeln!«, fügte er hinzu und bedeutete einem der Träger, seinen Tuchsack zu öffnen und den Lärm erzeugenden Inhalt herauszuholen. Beim Anblick der braunen und rosa Horn- und Knochenplatten mussten alle lachen, befreit von der Angst, die das Klappern hervorgerufen hatte.
Oxmyx war kahl
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