Das Perlenmaedchen
gehörte zum täglichen Leben. Da es keine zentrale Obrigkeit gab, waren Überfälle auf Nachbarn nichts Ungewöhnliches, ebenso wenig die unvermeidliche und niemals endende Vergeltung. Und ein Fremder, der allein unterwegs war und nicht nachweisen konnte, dass er diesem oder jenem Stamm angehörte, erregte Verdacht, wo immer er sich blicken ließ.
Dennoch stellte Chac bereits nach kurzer Zeit fest, dass ihm die Atmosphäre im Tal von Anahuac zusagte. Lag das an der dünnen Luft dieser Hochebene? Obwohl das Tal seit Jahrhunderten besiedelt war, strahlte es im Gegensatz zu den langsam verfallenden Maya-Städten im Osten und Süden eine Energie aus, als wäre hier etwas Neues, Aufblühendes da, das sich ständig weiterentwickelte. Hier pulsierte das Leben, und Chac wollte daran teilhaben.
Zusammen mit Tonina. Er wollte sie noch immer zu seiner Frau machen. Ständig grübelte er darüber nach, wie er das anstellen könnte.
Er nahm an, dass Türkisrauch kaum daran gelegen war, sich sehr weit von seinem angestammten Gebiet wegzubewegen. Also hoffte Chac darauf, mit dem Zapoteken-Häuptling ein Übereinkommen zu treffen, in dem es um die Scheidung von Tonina ging und um das Einverständnis, dass sie wieder heiratete. Was das Kind anbelangte, würde Türkisrauch, nicht anders als die meisten Stammeshäuptlinge, den Nachkommen von einer Zweitfrau eher als Verhandlungssache ansehen. Chac glaubte, Tonina und das Kind zu bekommen, wenn er Türkisrauch eine Regelung vorschlug, die zu verlockend war, um abgelehnt zu werden.
Dennoch machte er sich Sorgen. Die Gruppe hätte längst das Tal erreichen müssen, aber wo immer er sich – insbesondere bei Karawanen und Händlern aus dem Süden – nach einer großen Pilgergruppe auf ihrem Weg nach Aztlán erkundigte, konnte er nichts in Erfahrung bringen.
Die zwei bulligen Wachposten kamen zurück. »Wenn du Zutritt begehrst, musst du dafür bezahlen«, beschieden sie ihn.
Chac ließ sich seine Ungeduld nicht anmerken. Er hatte ihnen bereits die Chapultepec-Tätowierung gezeigt, die sie selbst auf der Brust trugen; sie wussten also, dass ihm das Recht auf eine Audienz mit dem Häuptling der Mexica zustand. Dennoch bestanden sie auf Schmiergeld.
Er war entschlossen, sich Zutritt zu verschaffen. Wenn er diese Gelegenheit verstreichen ließ und der Stamm dann das Tal verließ, würde er ihn womöglich nie mehr aufspüren.
Die Wächter hießen ihn seinen Reisesack öffnen, wollten sehen, was sich darin befand. Der eine deutete auf einen kleinen rehledernen Beutel, der ganz unten lag und den Chac nicht weiter beachtet hatte, weil es sich lediglich um einen Glücksbringer von Einauge handelte. »Was ist da drin?«
Chac zuckte mit den Schultern. »Alte Knochen, soviel ich weiß. Außer für den Eigentümer völlig wertlos.« »Lass mal sehen.«
Chac zurrte die Schnur, mit der der Beutel verschlossen war, auseinander, zog den Gürtel aus den Gehäusen der Kaurischnecke heraus. Als er ihn wiedererkannte, runzelte er die Stirn. »Hier. Das ist für Euch«, hatte Einauge gesagt. Aber nicht, dass der Beutel sein eigener war. Demnach musste Türkisrauch Einauge gebeten haben, ihm Toninas Keuschheitsgürtel auszuhändigen. Warum? Um Chac zu beleidigen? Um ihn herauszufordern?
»Hübscher Beutel«, meinte der Wächter und griff danach.
Aber Chac hielt ihn fest, bemerkte jetzt auch zum ersten Mal die Stickerei darauf. Sie stammte von den Maya. Vom Weidenbaum-Clan.
Baláms Clan.
Mit einem Mal wusste er, was ihm Kopfzerbrechen bereitet hatte. »Im Frühjahr, nach der Geburt des Kindes, ziehen meine Mutter und ich weiter, nach Aztlán«, hatte Tonina gesagt. Aber erst jetzt bemerkte Chac, dass diese Rechnung nicht stimmte. Wenn Tonina gleich nach der Hochzeit mit Türkisrauch schwanger geworden war, würde das Baby im Sommer zur Welt kommen. Wenn er aber vom kurz zuvor zu Ende gegangenen Frühjahr aus zurückzählte, musste Tonina bei ihrer letzten Begegnung bereits im vierten Monat gewesen sein.
Vier Monate zuvor hatte Balám den Isthmus verlassen …
»Heilige Göttin des Mondes«, entrang es sich Chac. Er stopfte Gürtel und Beutel wieder in den Reisesack, machte kehrt und entfernte sich eiligen Schritts von den beiden Wachposten.
»Nichts für ungut!«, riefen sie ihm hinterher. »Wir lassen dich auch ohne Bezahlung zu Häuptling Martok vor.«
Ihre Worte fanden kein Gehör. In Chacs Kopf pochte es derart heftig, dass er den Zorn, der in ihm aufstieg, förmlich schmecken konnte.
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