Das Perlenmaedchen
Undenkbar, dass sich Tonina dem Prinzen von Uxmal aus freien Stücken hingegeben hatte. Balám war über Tonina hergefallen. Aber warum? Die Frage war schnell beantwortet: Aus Chac war Tenoch geworden. Er hatte seine Maya-Verkleidung abgestreift, und das konnte Balám nicht ertragen.
Wie konnte ich nur so blind sein?
»Wovor hast du denn Angst?«, brüllten ihm die Mexica-Wachposten nach, und dann vernahm er Schmähungen und Gelächter.
Sie hielten ihn für einen Feigling. Es machte ihm nichts aus. Ebenso wenig wie es ihm etwas ausmachte, dass er möglicherweise die einzige Gelegenheit ungenutzt verstreichen ließ, wieder mit seinem Volk vereint zu werden. Ein einziger Gedanke beherrschte ihn: Er musste Tonina finden.
62
Balám wusste, dass Chac – jetzt Tenoch vom Chapultepec-Stamm – das Tal durchstreifte, auf der Suche nach der Pilgergruppe, die in nördlicher Richtung unterwegs nach Aztlán war.
Offenbar hatte er Toninas Spur aber noch nicht gefunden. Balám dagegen hatte, anders als der allein auf sich gestellte Chac, in vielen Lagern Mittelsmänner, die ihn ständig über die Bewegungen und Aktivitäten der Stammeshäuptlinge um den Texcoco-See auf dem Laufenden hielten, auch über Fremdlinge, die im Tal auftauchten. Deshalb wusste er, dass das Inselmädchen und ihr bunt gemischter Haufen einem Pfad nach Norden folgten, der sie in absehbarer Zeit am westlichen Rand des Tals von Anahuac vorbeiführen würde.
Die Ankunft eines Besuchers riss ihn aus seinen Gedanken. Über und über mit prächtigen Federn geschmückt, die ihm das Aussehen eines Truthahns verliehen, erschien Cocoxtli von Culhuacán, ein hier ansässiger Häuptling, um mit Balám über ein Bündnis zu verhandeln. Mit großem Zeremoniell ließen sich die beiden Parteien, jede begleitet von der gleichen Zahl schwer bewaffneter und mit Geschenken beladener Soldaten, in einem Weidendickicht unweit des südlichen Seeufers nieder. Man versicherte sich gegenseitig die Wertschätzung der Götter und Ahnen des anderen, wünschte sich Glück und ein langes Leben, kam sogar auf das schöne Sommerwetter zu sprechen und drückte die Hoffnung aus, dass der Regen noch auf sich warten lassen würde. Da Späher beider Seiten vermeldeten, dass sich Cocoxtlis Armee in ihrem Dauerlager außerhalb von Culhuacán ebenso unauffällig verhielt wie Baláms viertausend Krieger in der sandigen Ebene im Süden, wussten beide Anführer, dass der andere keinen Überraschungsangriff plante.
Sie setzten sich ans Feuer – zwei mächtige Männer mit langen Federn, schweren Ketten aus Jade, die Gesichter bemalt, die Umhänge schillernd wie Schmetterlingsflügel. Sie brachten den Göttern Trankopfer dar, nahmen beide einen Schluck pulque aus derselben Kalebasse zu sich zum Zeichen, dass sie einander vertrauten. Dann kam Cocoxtli zu Baláms Überraschung darauf zu sprechen, dass er in Mayapán gewesen sei, um das Dreizehnte Spiel mitzuerleben. »Eure Mannschaft war drauf und dran zu verlieren, bis Chac den Ball durch den Reifen beförderte. An jenem Tag wart Ihr nicht gut in Form, oder? Was führt Euch ins Tal von Anahuac?«
Balám wartete mit einer Geschichte auf, die er mit so vielen Einzelheiten ausschmückte, dass er sie inzwischen selbst für wahr hielt: von heimtückischen Machenschaften auf dem Spielfeld war da die Rede, von Feinden, die ihn in den Ruin getrieben hätten, sowie einem Vetter in Uxmal, der den König gegen ihn aufgehetzt hätte – die ganze Welt, so schien es, hatte sich verschworen, den edlen Prinzen Balám aus seiner Heimat zu vertreiben, auf dass er sich anderswo niederlasse.
»Wie Ihr ja selbst seht, steht hier im Tal kein Land zur Verfügung«, sagte Cocoxtli und musterte den Fremden misstrauisch. Alle Häuptlinge hatten von dem Maya gehört und waren auf der Hut. War er als Verhandlungspartner gekommen oder als Eindringling?
»Es liegt mir fern, einen so klugen Mann wie Euch zu täuschen, Erhabener Cocoxtli. Ich komme, um Land in Besitz zu nehmen. Der Starke regiert den Schwachen, das ist mein Motto. Wie ich erfahren habe, haltet Ihr es ebenso. Hat nicht Euer Vater die elenden Mexica vom Chapultepec verjagt und Anspruch auf deren Gebiet erhoben? Und seid Ihr es nicht, der die Süßwasserquellen des Chapultepec beherrscht? Auch wenn unsere Stämme aus weit voneinander entfernten Ländern kommen, sehe ich doch einen verwandten Geist in Euch, mein Freund. Ein Soldat ist ein Soldat, egal, welcher Hautfarbe er ist oder wie seine Götter heißen.
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