Deine Spuren im Sand
1.
D er Tag, an dem ich mich zur Flucht entschloss, war ein Samstag. Kein guter Tag! Samstags war Bettenwechsel auf Sylt, dann war vor der Verladerampe in Niebüll der Teufel los. Lange Autoschlangen, Schlangen vor der Toilette, Schlangen vor der Theke des Bistros, auch in der Vorsaison. Doch zum Glück traf der Strom der Sylt-Touristen erst am Nachmittag oder Abend in Niebüll ein, während ich schon am Vormittag hier angekommen war. Nur diejenigen waren mit mir gekommen, für die Sylt ein Naherholungsgebiet war, alle anderen waren noch unterwegs. Und das war gut so! Größere Menschenansammlungen durfte ich nicht riskieren. Denn trotz aller Vorsichtsmaßnahmen, die ich getroffen hatte, konnte ich mich auch hier, am Ende der Republik, nicht in Sicherheit wiegen. Wenn jemand merkte, dass ich den Hindenburgdamm zur Flucht nutzen wollte, dann war ich geliefert. Bevor nicht mein Wagen auf den Autozug gerollt war, durfte ich nicht aufatmen. Wachsam musste ich sein – äußerst wachsam! – und unbedingt dafür sorgen, dass niemand auf mich aufmerksam wurde.
Zugegeben, unauffälliges Verhalten gehörte nicht zu meinen Stärken. Schon gar nicht dann, wenn ich einem Automaten gegenüberstand, der in Automatensprache mit mir kommunizierte. Mit Anweisungen im Display, für die ich erst die Lesebrille aus der Tasche kramen musste, und einer Automatenstimme, die augenblicklich Widerspruch in mir erzeugte. Und das, obwohl sie nach der dritten Wiederholung noch immer keine Anzeichen von Ungeduld erkennen ließ, sondern mit der gleichen unverbindlichen Freundlichkeit wie beim ersten Mal leierte: »Führen Sie Ihre EC-Karte ein!«
»Genau das tue ich doch!« Da war es schon vorbei mit dem unauffälligen Verhalten, das mir in solchen und ähnlichen Situationen leicht außer Kontrolle geriet. »Warum spuckst du das Ding immer wieder aus?«
Auf meine Frage hatte die Automatenstimme keine Antwort. Meine EC-Karte wurde mit dem wenig hilfreichen Ratschlag ausgespuckt, ich möge es noch einmal versuchen.
»Das kann doch nicht wahr sein, dass ich nicht auf die Insel komme, nur weil ich nicht genug Bargeld dabei habe!«
Als hätte jemand meinen Hilfeschrei gehört, als gäbe es jemanden, der sich meiner annehmen wollte, fing auf dem Beifahrersitz ein Hahn an zu krähen. Noch immer fand ich den Klingelton, den ich mir für mein Handy ausgesucht hatte, ziemlich witzig, aber lachen konnte ich in diesem Augenblick trotzdem nicht. Ein krähendes Handy war angesichts meiner Unfähigkeit, mir von einem simplen Automaten die Einfahrt zur Verladerampe zu erkaufen, eher lästig.
Im Display flackerte der Name »Babette« auf. »Schon wieder!«
In den letzten Stunden hatte sie knapp hundertmal versucht, mich zu erreichen. Jetzt war ich allerdings geneigt, ihr endlich eine Chance zu geben. Vorausgesetzt, sie half mir per Ferndiagnose dabei, aus diesem blöden Automaten eine Fahrkarte für den Autozug nach Sylt herauszukitzeln, damit die Schranke, die meine Flucht zu vereiteln drohte, endlich hochging.
»Wo bist du?«, hörte ich Babettes Stimme, als ich den grünen Knopf betätigt hatte. »Sag mir sofort, wo du bist!«
»Sag du mir lieber, wie ich eine EC-Karte in einen Schlitz schiebe, ohne dass sie postwendend wieder vor meine Füße gespuckt wird.«
»Du stehst vor einem Geldautomaten?« Babette schwieg einen Augenblick, was bei ihr nur dann vorkam, wenn sie außerordentlich verblüfft war. Dann schrie sie los: »Hast du den Verstand verloren? Du hast schon tausendmal Geld aus dem Automaten gezogen. Was soll also diese blöde Frage?«
»Ich stehe vor keinem Geldautomaten«, sagte ich langsam und betont.
Zu weiteren Erklärungen kam ich nicht, denn plötzlich entstand Bewegung in meinem Rückspiegel. Ein Wagen hatte sich hinter mir aufgestellt, statt die zweite oder dritte Spur zu benutzen, wie es alle anderen Fahrer getan hatten, die nach mir gekommen waren und jetzt schon vor einem Kaffee im Bistro saßen.
Entsetzt starrte ich in den Rückspiegel, in dem sich eine Wagentür öffnete, und dann in den Außenspiegel, in dem eine männliche Gestalt heranwuchs.
»Da kommt jemand«, flüsterte ich.
»Dann hau ab!«, schrie Babette.
»Das geht nicht. Ich kann nicht.«
»Mach jetzt keinen Fehler!«, hörte ich Babette noch brüllen, ehe ich den roten Knopf drückte.
Im nächsten Augenblick klopfte jemand an die Scheibe der Fahrertür. Ein Mann beugte sich zu mir herab, ich sah in ein lächelndes Gesicht, dessen untere Hälfte von einem
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