Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Perseus-Protokoll - Hensel, K: Perseus-Protokoll

Das Perseus-Protokoll - Hensel, K: Perseus-Protokoll

Titel: Das Perseus-Protokoll - Hensel, K: Perseus-Protokoll Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Hensel
Vom Netzwerk:
der Soldat geschossen hatte. Aber näher am Bug oder am Heck? Mutter richtete sich auf, hielt ihren Bauch, Vater schöpfte mit einer Blechdose, bis zu den Knöcheln im Wasser stehend, bald bis zu den Knien. Die Bärtigen fluchten nicht mehr, ihre Augen waren weiß und glänzten vor Angst. Einer suchte mit einer Taschenlampe, warf Tüten und Koffer über Bord. Hinten, wo der schwere Außenborder hing, sank das Boot immer tiefer, Wellen schlugen über die Bordwand, die Taschenlampe erlosch. Seine Schwester hob den Kopf, sah das Wasser, fing an zu weinen.
    »Nicht schlimm! Halte dich an mir fest!«
    Holz barst, alles stürzte zum Bug, er roch nasse Kleider, sah nur noch Stoff, glaubte zu ersticken. Er fühlte das Boot kentern, fühlte eisiges Meerwasser. Er hielt den Kopf seiner schreienden Schwester in die Höhe, strampelte mit den Beinen, mit einem Arm, die Männer brüllten, sie konnten genauso wenig schwimmen wie die Frauen, keiner der Kurden und Somalier, die eben noch stark und grimmig aus ihren Mänteln geschaut hatten, konnte schwimmen! Wo war Vater, wo war Mutter? In der Finsternis sah er hier einen Kopf, dort eine Tüte, Hände krallten sich an ihn, drückten ihn unter Wasser, er strampelte, schluckte, tauchte wieder auf. Ein Bootsriemen, er umklammerte ihn – wo war seine Schwester?
    »Rafqa! Rafqa!«
    Wind heulte in seinen Ohren, Regen prasselte aufs Wasser. Er griff nach einem hellen Fleck, fühlte den Stoff – es war bloß ein leerer Mantel. Er strampelte mit den Beinen, sah hier und da noch einen Kopf aus dem Wasser ragen, Arme, eine Hand …
    »Papa! Mama! Rafqa!«
    Niemand hörte ihn, niemand antwortete. Er sah die Lichter der Insel, die so nahe schienen, kniff die Augen zusammen, sah sie glitzern, gelb, grün, blau, in allen Farben des Regenbogens. Kaum fühlte er noch seine Beine, seine Arme. Er versuchte zu beten, aber er konnte seine Finger nicht falten, sie waren zu steif, und er musste den Riemen festhalten. Plötzlich fühlte er eine Kraft, die ihn umhüllte. Sie war warm und dunkel, sie schützte ihn wie eine Blase. Er hörte eine Stimme, weich und zärtlich.
    »Willst du leben?«
    »Ja …«
    »Willst du stark bleiben und durchhalten?«
    »Ja, ich will …«
    Eine Welle brach über ihm, er schluckte Salzwasser.
    »Der Soldat, der auf das Boot geschossen hat, ist böse«, sagte die Stimme. »Das Schiff, von dem der Soldat geschossen hat, ist böse. Das Land, aus dem das Schiff kommt, ist böse. Der Soldat, das Schiff und das Land – sie müssen für ihre Schuld bezahlen!«

Zwanzig Jahre später, 11. August
    Zwanzig Jahre später
    11. August
    »Wundersame Dinge geschehen einem in Griechenland – wundersame, gute Dinge, die sonst nirgends auf der Welt geschehen können.«
    Henry Miller

1
    »Heiratest du mich?«, fragte Julian.
    »Was sagt Mama?«
    »Mama sagt, ich darf jeden heiraten, den ich will. Nur nicht nach dem Zähneputzen.«
    Julian stand neben Marias Liegestuhl, ließ Sand aus seiner kleinen Faust auf ihren Bauchnabel laufen.
    »Bin ich dir nicht zu alt?«, fragte Maria.
    »Du bist jünger als Mama.«
    »Das stimmt.«
    »Du könntest Mamas Tochter sein.«
    »Nicht ganz, aber –«
    »Dann wärst du meine Schwester. Und dann können wir heiraten!« Er drückte sein Gesicht auf ihren Bauch, hob den Kopf, seine kleinen Zähne strahlten zwischen den sandigen Lippen. »Wir heiraten und tanzen und essen Süßigkeiten.«
    »Und dann?«
    »Trägst du mich über die Schwelle!«
    Julian sah seine Mutter aus dem Wasser kommen. Er wischte sich den Sand aus dem Gesicht, lief auf sie zu, sein frisch eingecremter Körper glänzte in der Sonne. Er umarmte sie, lief weiter ins Wasser, warf sich in die Wellen, kraulte und tauchte. Undine trocknete sich ab.
    »Warum springst du nicht auch rein?«, fragte sie Maria. »Herrlich erfrischend!«
    »Gegen den Wintersturm, auch wann er am schrecklichsten tobte.
    Freudig sahe das Lager der herrliche Dulder Odysseus …«
    »Wie kann man so was Schreckliches lesen? Im Urlaub?«
    »Odysseus war auf Kreta«, sagte Maria. »In der Eileíthyia-Höhle, nur ein paar Kilometer von hier.«
    Undine streckte sich auf ihrem Liegestuhl aus. Ließ eine Hand in ihre Umhängetasche gleiten, warf einen Blick hinein, den Maria nicht sehen sollte. Aber Maria sah ihn und hätte ihr gleich sagen können: Das Handy hatte nicht geklingelt.
    »Du solltest wirklich ins Wasser gehen«, wiederholte Undine, mit einer Stimme, die leicht klingen sollte, aber vor Wut und Enttäuschung

Weitere Kostenlose Bücher