Das Pestkind: Roman (German Edition)
wahrscheinlich vergessen, zum Friedhof und zum Pfarrer zu gehen, bei dem Marianne bereits gewesen war, denn sonst würde Irmgard bei diesem Wetter im Schuppen zu stinken anfangen. Die alte Magd hatte es verdient, eine anständige Beerdigung zu bekommen. Auch wenn diese eher einfach und ohne Pfarrer am Grab ausfallen würde. Hedwig dachte nicht daran, den Geistlichen zu bezahlen oder wenigstens eine kleine Spende für die Kirche zu geben. Deshalb würde Irmgard nur kurz im Stall gesegnet werden, bevor Poldi sie hoffentlich abholen würde.
Marianne atmete tief durch, ignorierte seinen rüden Ton und antwortete:
»Hedwig Thaler schickt mich. Unsere Irmgard, die Küchenmagd, ist tot. Einfach umgefallen. Könnt Ihr sie morgen Vormittag holen?«
Poldi zog die Augenbrauen hoch und machte eine weit ausholende Geste.
»Vier Gräber müssen bis morgen fertig werden. Denkst du, ich hab für alles Zeit, du vermaledeites Etwas? Sieh zu, dass du fortkommst, und richte Hedwig aus, ich hätte zum Abholen keine Zeit und sie soll die Leiche herbringen.«
Mit dieser Antwort hatte Marianne gerechnet.
Doch es gehörte zu Poldis Aufgaben, die Leichen abzuholen. Sie durften innerhalb der Stadtmauern nicht einfach auf irgendeinem Wagen transportiert werden. Der Friedhofsgräber musste sie mit dem dafür vorgesehenen Karren abholen, ob es ihm gefiel oder nicht. Margit hatte sie schon vorgewarnt, dass er gewiss versuchen würde, sie abzuwimmeln.
»Ihr kennt die Regeln, Poldi. Sie muss mit dem Leichenkarren abgeholt werden.«
Poldi warf ihr einen bösen Blick zu. Auch wenn er sie nicht leiden konnte und am liebsten in die Hölle schicken würde, aus der sie anscheinend hervorgekrochen war, musste er in diesem Fall nachgeben. Es war seine Pflicht, die Toten einzusammeln. Wenn er es nicht tat, konnte er Ärger mit dem Büttel bekommen, was er auf gar keinen Fall wollte.
Er griff wieder nach seiner Schaufel und arbeitete weiter. Marianne blieb abwartend vor dem Grab stehen. Sein Verhalten war unmöglich, doch sie versuchte trotzdem, geduldig zu bleiben, denn mit lauten Worten würde sie nicht weiterkommen. Poldi musste nachgeben. Es war nur eine Frage der Zeit.
Der Friedhofsgräber schaufelte eine Weile schweigend weiter, doch irgendwann konnte er ihren Anblick nicht mehr ertragen.
»Also gut«, lenkte er ein. »Ich komme sie morgen früh holen. Einen Sarg wird es nicht geben, oder?«
Marianne atmete erleichtert aus.
»Nein, einen Sarg gibt es nicht. Auf Wiedersehen.«
Sie drehte sich um und schritt hocherhobenen Hauptes davon.
Auf dem Rückweg vom Friedhof kam Marianne am Anwesen der Hofers vorbei, das am Anfang der engen Hafnergasse lag, die zum Salzstadl führte. Es war ein prachtvolles Eckhaus mit einem großen Tor, durch das man in einen Innenhof gelangte, in dem eine große Linde neben einem plätschernden Brunnen stand.
Die Hofers waren reiche Leute. Maximilian Hofer war ein angesehener Tuchhändler. Fast alle Lieferungen, die über den Inn verschifft wurden, kamen zu ihm oder wurden von hier verschickt. Im hinteren Teil des Hofes gab es große Lagerhäuser, in denen viele Tuchballen auf ihre Abnehmer warteten.
Marianne hatte als Kind gern mit Angelika, der Tochter des Hauses, gespielt. Angelika war zwei Jahre älter als sie und hatte nie viel darauf gegeben, ob ihrem Vater gefiel, was sie tat. Ungehorsam hatte er sie genannt und Marianne stets vom Hof verscheucht, wenn er ihrer ansichtig geworden war. Sogar eingesperrt hatte er Angelika und geschlagen. Doch die beiden Mädchen trafen sich trotzdem.
Der Tuchhändler war Witwer und oft auf Reisen. Angelika war von Kinderfrauen großgezogen worden, die sich meistens nicht darum scherten, was das Kind tat.
Marianne und Angelika waren eine Zeitlang wie Pech und Schwefel gewesen. Marianne hatte die Freundin häufig zu den Mönchen ins Kloster mitgenommen, wo sie durch den weitläufigen Obstgarten toben durften und oft bei der Ernte halfen.
Wehmütig blickte Marianne in den vertrauten Innenhof und betrachtete den staubigen Boden, die Karren vor den Lagerhäusern und die Hühner, die gackernd herumliefen und nach etwas Essbarem suchten. Überall auf dem Boden lagen wie ein hellgrüner Teppich die Blüten der Linde.
Gern wäre sie hineingegangen und hätte grüß Gott gesagt, aber sie traute sich nicht. Angelika hatte vor drei Jahren geheiratet. Ludwig Thalhammer stammte aus einer einflussreichen Kaufmannsfamilie. Von fern hatte Marianne Angelika in ihrem hübschen
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