Das Pestkind: Roman (German Edition)
Prolog
P farrer Angerer hatte seinen Blick auf die Berge gerichtet, als er den schmalen Feldweg entlangging. Wieder einmal redete er sich ein, die mächtigen Gipfel würden ihm Sicherheit geben. Denn sie waren immer da, in ihrer Schönheit unvergänglich, und sie würden auch noch auf die Welt blicken, wenn es die Menschen nicht mehr gab.
Rechts und links des Weges standen Leichenkarren, auf denen in Leinentücher gewickelte, namenlose Tote auf eine Beerdigung in einem Massengrab warteten. Auf einem der Karren saß eine weinende Frau, eine Kinderleiche im Arm. Der Pfarrer blieb stehen und musterte sie mitleidig. Anneliese Hoflechner zählte noch keine achtzehn Jahre. Erst vor zwei Jahren hatte er sie in seiner Kirche getraut. Glücklich war sie damals gewesen, die Wangen rund und gerötet, die blauen Augen strahlend. Jetzt wirkte sie wie ein anderer Mensch, das Gesicht blass und eingefallen, die verweinten Augen in tiefen Höhlen. Ihr Kleid war schmutzig und voller Löcher, ihr Haar strähnig und wirr.
»Ach, Anneliese, es tut mir so leid für dich. Du solltest aber trotzdem vom Wagen herunterkommen. Der kleinen Luise kannst du nicht mehr helfen, denn sie ist schon längst bei Gott. Ich verspreche dir, sie in meine Gebete einzuschließen.« Er streckte ihr seine Hand hin und nickte aufmunternd. »Du wirst doch krank.«
Die junge Frau sah den alten Pfarrer verstockt an.
»Nein, ich gehe nirgendwohin. Sie braucht mich. Ich kann sie nicht einfach hier liegen lassen. Sie wollte doch nie allein sein. Sie schreit bestimmt, wenn ich fortgehe.«
Traurig nickte der Geistliche.
»Na, dann bleib noch ein wenig, damit das Kind nicht schreit.«
Seufzend setzte er seinen Weg fort. Ihm fehlten die Kraft und die Worte, um Anneliese zu erklären, dass ihr Kind nie wieder schreien würde. Wahrscheinlich war auch sie bereits krank, und nur Gott konnte ihr – konnte ihnen allen – jetzt noch helfen.
Am Totenfeld angekommen, empfing ihn Ludwig, der Totengräber. Sein braungebranntes Gesicht war mit Erde verschmiert, seine Wangen waren leicht gerötet. Er begrüßte den Pfarrer mit einem Lächeln.
»Guten Morgen, Hochwürden.«
Ludwig, der den blonden Schopf und das mitfühlende Herz seiner Mutter geerbt hatte, wirkte gesund und kräftig. Keine Anzeichen von Erschöpfung oder gar Fieber waren zu erkennen. In Pfarrer Angerers Augen war dieser Mann ein Phänomen. Seit Wochen vergrub er Leichen, berührte jeden Tag den Schwarzen Tod und atmete verseuchte Luft ein, doch krank wurde er nicht. Viele andere, die hier draußen gearbeitet hatten, waren bereits dahingerafft worden. Aber er war jeden Tag hier, arbeitete bis zur Erschöpfung, spendete so manch Trauerndem Trost und betete für die Toten.
»Und, wie sieht es heute aus?« Der Pfarrer blickte in die neu ausgehobene Leichengrube, in der bereits mehr als zwanzig Tote nebeneinanderlagen.
»Wie immer.« Der Totengräber deutete hinter sich. »Heute ist auch vom Gutshof der Leitners ein Wagen gekommen. Alle sind tot. Nur …« Ludwig stockte.
»Was nur?« Pfarrer Angerer sah ihn erstaunt an.
»Es fehlt jemand.«
»Wie, es fehlt jemand?«
»Ich habe doch oft auf dem Hof ausgeholfen. Im Stall und auf dem Feld. Nachdem Maria, Gott hab sie selig, letztes Jahr im Kindbett gestorben ist, wurden dort immer wieder helfende Hände gebraucht.«
Pfarrer Angerer sah den Totengräber ungeduldig an.
»Ja und, weiter.«
Ludwig deutete auf einen Leiterwagen am Wegrand.
»Alle sind auf dem Karren. Sogar Alma, die Küchenmagd, hat es erwischt. Nur die kleine Marianne fehlt. Es war keine Kinderleiche darunter. Ich habe genau nachgesehen.«
Verdutzt sah der Pfarrer den Totengräber an.
»Vielleicht sollte noch mal jemand auf dem Hof nach dem Rechten sehen?« Ludwig kratzte sich am Kopf. »Am Ende lebt die Kleine noch.«
Pfarrer Angerer seufzte. Viel Hoffnung, ein lebendes Kind zu finden, hatte er nicht. Doch das tote Mädchen dort seinem Schicksal überlassen, das wollte er auch nicht. Das Kind hatte es verdient, in geweihter Erde begraben zu werden.
»Mit jemand bin dann wohl ich gemeint.«
Ludwig grinste, griff erneut nach seiner Schaufel und begann, das Massengrab zuzuschaufeln.
»Ich würde ja hingehen. Aber Ihr seht ja, was hier los ist.«
Der Gutshof der Leitners sah von weitem wie immer aus. Doch als der Pfarrer auf den Innenhof des weitläufigen Anwesens trat, war die Veränderung spürbar. Es war totenstill. Keine Hühner kamen ihm neugierig entgegengelaufen, keine
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