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Das Pestkind: Roman (German Edition)

Das Pestkind: Roman (German Edition)

Titel: Das Pestkind: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Steyer
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weggehen! Ich will zu Alma! Sie hat gesagt, sie kommt mich holen. Fest hat sie es versprochen!«
    Pfarrer Angerer antwortete nicht. Er hielt sie umklammert und kämpfte mit den Tränen, während er den Feldweg entlangging und erneut den Blick auf die Berge richtete.
    Marianne wand sich, schlug auf ihn ein und schrie. Doch es half alles nichts. Der Gutshof wurde immer kleiner und verschwand bald ganz aus ihrem Blickfeld.

Teil I
    Rosenheim 1648
    D as rote Licht des anbrechenden Sommermorgens drang in den Raum. Die Vögel waren erwacht, zwitscherten aber nur vereinzelt. Marianne drehte sich zur Seite und blickte durch das kleine Fenster über die Dächer der Stadt. Über die Mauern, Giebel und Hinterhöfe, die dicht an dicht nebeneinanderlagen und kaum Raum ließen für Blattwerk und Grün. Doch nicht weit davon, hinter den letzten Gassen unten am Fluss, erstreckte sich ein Wald, den sie von hier oben erkennen konnte. Sie beobachtete stumm den roten Streifen am Horizont, der sich ins Orangerote und Gelbe verfärbte, um dann dem grellen Licht der Sonne Platz zu machen. Heute wäre ein guter Tag für einen Ausflug ins Kloster, dachte sie. Schon länger hatte sie die Mönche und ihren Mentor, den Abt Pater Franz, nicht mehr besucht. Besonders ihr geliebter Rosengarten, in dem sie so gern saß, fehlte ihr.
    Sie richtete sich auf und schaute auf ihren Stiefbruder, der zusammengekauert neben ihr im Bett lag und im Schlaf leicht schmatzende Geräusche machte. Sein fettiges, braunes Haar stand wirr von seinem Kopf ab, und seine Wangen, die ein sanfter Flaum zierte, waren gerötet. Anderl war in der Nacht zu ihr gekommen. Was er immer tat, wenn ein Gewitter über dem Haus tobte oder andere Dinge ihn erschreckten. Allmählich wurde er allerdings zu groß, um in ihr Bett zu schlüpfen. Immerhin waren sie keine Kinder mehr – jedenfalls war sie keines mehr. Im Herbst würde sie achtzehn Jahre alt werden, viele Mädchen in ihrem Alter dachten bereits ans Heiraten oder waren verlobt. Anderl, der drei Jahre jünger war als sie, war zwar auch älter und größer geworden, hatte einen flaumigen Bartwuchs und eine tiefe Stimme bekommen, aber es war die Stimme eines Mannes, der dachte wie ein Kind, der so vieles nicht verstand und den alle nur den Dummen nannten. Als einfältiges Balg der Thalerin wurde er beschimpft, und die Kinder verspotteten ihn und riefen ihm all das hinterher, was sie von den Erwachsenen aufgeschnappt hatten. Anderl machte sich nicht viel daraus. Er schien in seiner eigenen Welt zu leben, hielt nichts von Regeln, verschwand, wann er wollte, nahm sich die Zeit, die er brauchte.
    Es war nicht richtig, wie sie ihn behandelten, dachte Marianne und strich ihm sanft über die Wange.
    Vorsichtig kletterte sie über ihn hinweg und schlich zu ihrem winzigen Waschtisch. Die enge Dachkammer war karg möbliert. Ein einfacher Stuhl und ein schmaler Tisch standen unter dem zweiten Fenster. In einer schäbigen, braunen Truhe verwahrte sie ihre wenigen Habseligkeiten – ihre Erinnerungen an ein anderes Leben, das es nur noch verschwommen in ihrem Kopf gab. Ihr Blick wanderte über die matt schimmernden Beschläge und das abgewetzte Leder. Jetzt war keine Zeit für Wehmut, auch wenn das ihrer Stimmung entsprach. Ihr Tagwerk rief. Irmgard war bestimmt bereits in der Küche und wartete auf sie. Die gute alte Irmgard, der einzige Mensch in diesem Haus, außer Anderl, der sie nicht ständig ausschimpfte oder gängelte.
    Ihr Hemd klebte an ihrem Leib, den jetzt, da sie der Wärme des Bettes entflohen war, trotz der schwülen Hitze im Raum, eine leichte Gänsehaut überzog. Hastig zog Marianne das Hemd aus und nahm von einer kleinen Wäscheleine, die in der Ecke neben dem Tisch hing und den Kleiderschrank ersetzte, ein frisches. Es wies bereits einige kleine Löcher auf, war aber trocken und sauber. Daneben hingen ihre wenigen Kleider. Ihr einziges Sommerkleid hatte sie gestern notdürftig vom Schmutz der Straßen befreit. Seufzend nahm sie es von der Leine und fuhr über den Saum, der noch feucht und nicht ganz sauber war. In einigen Stunden würde er sowieso wieder aussehen wie vorher, dachte sie, zog das Kleid über den Kopf und schnürte ihre Brüste ein. Sie hielt nicht viel davon, ihre weiblichen Reize zu zeigen. Prüfend blickte sie in den trüben Spiegel, der über ihrem winzigen, klapprigen Waschtisch an der Wand hing. Doch ihre tiefen Augenringe konnte selbst der alte Spiegel nicht verdecken. Sie spritzte sich Wasser ins

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