Das Phantom von Manhattan - Roman
Mann. Die Leiterin der Tanztruppe wollte in Pension gehen; er sagte, ich besäße genügend Erfahrung, und er wolle nicht außerhalb der Oper nach einer Nachfolgerin für sie suchen. Also ernannte er mich zur Maîtresse du Corps de Ballet. Sobald Meg geboren und einer Amme übergeben war, übernahm ich meine neue Aufgabe. Das war 1876, ein Jahr nach der Eröffnung von Garniers prachtvoller neuer Oper. Endlich waren wir aus diesen beengten Räumen in der Rue de Peletier heraus; der Krieg war längst vorüber, die Schäden, die mein geliebtes Paris erlitten hatte, waren beseitigt, und das Leben war schön. Die Belle Époque nennt man diese Zeit heute, und sie war belle.
Mir machte es nicht mal etwas aus, als Jules seine fette Belgierin kennenlernte und mit ihr in die Ardennen durchbrannte. Fort mit Schaden. Ich hatte wenigstens Arbeit, was mehr war, als er je von sich hatte behaupten können. Genug, um meine kleine Wohnung zu behalten, Meg großzuziehen und jeden Abend zu beobachten, wie meine Mädchen die gekrönten Häupter Europas begeisterten. Was wohl aus Jules geworden sein mag? Für Nachforschungen ist’s jetzt zu spät. Und Meg? Eine Ballett- und Revuetänzerin wie ihre Mama - zumindest soviel konnte ich für sie tun -, bis zu jenem schrecklichen Sturz vor zehn Jahren, nach dem ihr rechtes Knie für immer steif blieb. Selbst dann hatte sie mit etwas Unterstützung von mir noch Glück. Kammerzofe bei Christine de Chagny, der größten Diva Europas. Nun, wenn man diese unkultivierte Australierin Melba
außer acht läßt, was ich tue. Wo Meg jetzt wohl sein mag? Mailand, Rom, vielleicht Madrid. Wo die Diva gerade singt. Und wenn ich mir vorstelle, wie ich die Vicomtesse de Chagny früher angeschrien habe, sie solle achtgeben und nicht aus der Reihe tanzen!
Was tue ich also hier, auf ein vorzeitiges Grab wartend? Nun, als erstes kam vor acht Jahren meine Pensionierung an meinem fünfzigsten Geburtstag. Ich wurde sehr nett verabschiedet. Mit den üblichen Platitüden. Und mit einem großzügigen Bonus für meine zweiundzwanzig Dienstjahre als Leiterin der Tanztruppe. Genug, um davon leben zu können. Und als kleines Zubrot Privatunterricht für die unglaublich schwerfälligen Töchter der Reichen. Nicht viel, aber doch genug, um etwas auf die hohe Kante zu legen. Bis letztes Frühjahr.
Damals begannen die Schmerzen, anfangs nicht häufig, aber scharf und plötzlich, tief drunten im Unterleib. Der Arzt verordnete mir Wismut gegen Verdauungsbeschwerden und stellte dafür ein kleines Vermögen in Rechnung. Damals wußte ich noch nicht, daß die stählerne Krabbe in mir saß, mich mit ihren großen Scheren zerfleischte und ständig weiterwuchs, während sie fraß. Nicht vor Juli. Dann war es zu spät. Deshalb liege ich hier, bemühe mich, nicht vor Schmerzen zu schreien, und warte auf den nächsten Teelöffel der weißen Göttin, jenes Pulvers, das im Orient aus Mohnkapseln gewonnen wird.
Der letzte Schlaf wird nicht mehr lange auf sich warten lassen. Ich habe nicht einmal mehr Angst. Vielleicht wird der Herr mir gnädig sein. Ich hoffe es,
aber zumindest wird er die Schmerzen von mir nehmen. Ich versuche, mich auf etwas anderes zu konzentrieren. Ich blicke zurück und denke an all die Mädchen, die ich ausgebildet habe, und meine hübsche junge Meg mit ihrem steifen Knie, die noch auf den Mann ihres Lebens wartet - ich hoffe, daß sie ihn findet. Und ich denke natürlich an meine Jungs, an meine lieben, tragischen Jungs. An die denke ich am meisten.
»Madame, Monsieur l’Abbé ist da.« »Danke, Schwester. Ich sehe nicht mehr so gut. Wo ist er?«
»Ich bin hier, mein Kind, Pater Sebastien. An Ihrer Seite. Spüren Sie meine Hand auf Ihrem Arm?«
»Ja, Pater.«
»Sie sollten Ihren Frieden mit Gott machen, ma fille . Ich bin bereit, Ihnen die Beichte abzunehmen.«
»Es ist Zeit. Vergeben Sie mir, Pater, denn ich habe gesündigt.«
»Sagen Sie mir alles, mein Kind. Halten Sie nichts zurück.«
»Vor langer Zeit, im Jahr 1882, habe ich etwas getan, das viele Leben verändert hat. Damals habe ich nicht gewußt, was geschehen würde. Ich habe impulsiv und aus Motiven heraus gehandelt, die mir gut erschienen sind. Ich war vierunddreißig und Maîtresse des Corps de Ballet der Pariser Oper. Ich war verheiratet, aber mein Mann hatte mich verlassen und war mit einer anderen Frau durchgebrannt.«
»Sie müssen ihnen vergeben, mein Kind. Vergebung ist Bestandteil Ihrer Buße.«
»Oh, das habe ich getan. Schon lange.
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