Das Phantom von Manhattan - Roman
die ganze Wahrheit gehört. Ich habe Erik einen Monat lang in meiner Wohnung beherbergt, aber das war auf Dauer unmöglich. Es gab Nachbarn, Besucher, die an meine Tür kamen. Eines Nachts habe ich ihn zu meiner Arbeitsstätte, in die Oper mitgenommen, und dort hat er eine neue Heimat gefunden.
Dort hatte er endlich einen Zufluchtsort, ein sicheres Versteck gefunden, in dem die Welt ihn niemals würde aufspüren können. Trotz seiner schrecklichen Angst vor offenem Feuer nahm er eine Fackel und stieg ins tiefste Kellergeschoß hinunter, wo die Dunkelheit sein gräßliches Gesicht verbergen würde. Mit Holz und Werkzeug aus der Schreinerei baute er sich seine Unterkunft am Ufer des Sees. Er möblierte sie mit Stücken aus der Requisite und Stoffen aus der Kostümabteilung. In der Zeit nach Mitternacht, in der das Gebäude menschenleer war, konnte er sich aus der Personalkantine Essen beschaffen und sogar die Anrichte des Direktors plündern, um an Delikatessen zu gelangen. Und er las.
Er fertigte sich einen Schlüssel für die Bibliothek der Oper an und verbrachte Jahre damit, sich die Bildung anzueignen, die ihm verwehrt gewesen war; Nacht für Nacht saß er bei Kerzenlicht über den Büchern der riesigen Bibliothek. Natürlich handelten die meisten Werke von Musik und der Oper. Erik brachte es so weit, daß er jede jemals geschriebene Oper und jede Note jeder Opernarie kannte. Mit großem handwerklichen Geschick erbaute er ein Labyrinth
aus Geheimgängen, die nur er kannte, und da er schon als Kind mit Seiltänzern geübt hatte, konnte er furchtlos über die höchsten und schmalsten Schnürbodenstege balancieren. Dort lebte er elf Jahre und wuchs im Untergrund zu einem Mann heran.
Aber es dauerte natürlich nicht lange, bis die ersten Gerüchte entstanden und sich ausbreiteten. Essen, Kleidung, Kerzen, Werkzeug verschwanden über Nacht spurlos. Das leichtgläubige Personal begann von einem Phantom in den Kellern zu munkeln, bis schließlich jeder kleinste Unfall - und hinter der Bühne sind viele Arbeiten gefährlich - dem geheimnisvollen Phantom angelastet wurde. So entstand und wuchs die Legende.«
» Mon dieu , davon habe ich auch schon gehört! Vor zehn Jahren... nein, das muß schon länger her sein … hat man mich geholt, um einem armen Kerl, der erhängt aufgefunden worden war, die Letzte Ölung zu erteilen. Damals hat mir jemand erzählt, das sei die Tat des Phantoms gewesen.«
»Der Mann hat Bouquet geheißen, Pater. Aber das ist nicht Erik gewesen. Joseph Bouquet hat unter Anfällen von Schwermut gelitten und sich ganz sicher selbst das Leben genommen. Anfangs habe ich die Gerüchte begrüßt, weil ich glaubte, sie würden die Sicherheit meines armen Jungen - denn das war er für mich - in seinem kleinen Reich in der Dunkelheit unter der Oper garantieren, und das hätten sie vielleicht auch getan, wenn der schreckliche Herbst des Jahres 1893 nicht gewesen wäre. Er hat etwas sehr Törichtes getan, Pater. Er hat sich verliebt.
Damals hat sie Christine Daae geheißen. Sie kennen sie heute vermutlich als Madame la Vicomtesse de Chagny.«
»Aber das ist unmöglich! Nicht...«
»Doch, dieselbe Frau, damals eine Tänzerin in meiner Truppe. Tänzerisch nicht sehr begabt, aber mit einer klaren, reinen Stimme, jedoch nicht als Sängerin ausgebildet. Erik hatte Abend für Abend die besten Stimmen der Welt gehört; er hatte die Arien studiert, er wußte, wie man eine große Stimme heranbildet. Als ihre Ausbildung abgeschlossen war, übernahm sie eines Abends die Hauptrolle und wachte am nächsten Morgen als gefeierte Diva auf.
Mein armer, häßlicher, verstoßener Erik glaubte, sie könnte seine Liebe erwidern, aber das war natürlich unmöglich. Denn sie hatte ihre eigene junge Liebe. In seiner Verzweiflung entführte Erik sie eines Abends von offener Bühne mitten in der von ihm geschriebenen und komponierten Oper Don Juan Triumphant .«
»Aber ganz Paris hat von diesem Skandal gehört, sogar ein bescheidener Priester wie ich. Ein Mann ist dabei ermordet worden.«
»Ja, Pater. Der Tenor Piangi. Erik wollte ihn nicht ermorden, nur am Schreien hindern. Aber der Italiener bekam keine Luft mehr und starb. Das war natürlich das Ende. Der Zufall wollte es, daß der Polizeipräfekt an diesem Abend im Publikum saß. Er ließ hundert Gendarmen kommen; sie nahmen brennende Fackeln und stiegen, von einem rachsüchtigen Mob begleitet, in die Keller bis zum Seespiegel hinunter.
Sie entdeckten die Geheimtreppen,
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